Der Totenschmuck
andere zu vergessen.
Doch als sie durch die Tür trat und die drei Studenten - Jaybee und Becca waren nicht gekommen - mit erschrockenen Gesichtern an ihren Tischen sitzen sah, wusste sie, dass es unmöglich war, das Seminar so zu halten, als wäre nichts geschehen.
»Hallo zusammen«, sagte sie und schlüpfte aus ihrem Regenmantel. »Ich weiß, wie schwer das für mich ist, und für sie muss es noch schlimmer sein.«
Sie starrten Sweeney an, geschockt und, wie sie fand, verängstigt. Sie setzte sich und besah sich die Überbleibsel ihres Seminars.
Rajiv Patel war ein großer, gut aussehender Mann, der vor den Toren Detroits aufgewachsen war und ganz passabel schreiben konnte. Er kleidete sich wie ein literarisches Wunderkind, trug Tweedjacketts und Hornbrillen und Sweeney befürchtete, dass sein Interesse für den Umgang mit dem Tod in der Kunst nur von einem größeren, buchstäblicheren Interesse für den Tod ablenken sollte. Nur selten war ihr jemand begegnet, der eine so schnelle Auffassungsgabe hatte wie Rajiv; er konnte sich sofort neue Konzepte merken, Widersprüchlichkeiten entwirren, Verknüpfungen herstellen und knifflige Fragestellungen lösen. Es war ein Vergnügen, ihm beim Denken zuzusehen.
Bei den anderen Anwesenden handelte es sich um Ashley Jones und Jennifer Jones.
Ashley war ungefähr so unsäglich, wie Sweeney sich eine Ashley nur vorstellen konnte. Sie hatte einen strengen Topfschnitt und färbte ihre Haare tintenschwarz. Sie trug gerne ausgebeulte schwarze Hosen und zerrissene schwarze T-Shirts, auf die die Namen von Bands in Rot oder Pink gekritzelt waren. Sie hatte mehrere Piercings, ein paar davon waren wieder verheilt und hatten Schorf gebildet, so dass ihre Ohren und ihre Nase aussahen, als hätten sie eine Gänsehaut. Sie war sehr klug und hatte einen merkwürdig gestelzten Schreibstil, den Sweeney gern las. Außerdem redete sie ungehemmt und laut über Heterosexismus - obwohl sie selbst eindeutig heterosexuell war - und mochte es, Thesen über die Moral der Ehe kundzutun.
Jennifer Jones war die Tochter eines wohlhabenden Geschäftsmannes und war auf der ganzen Welt aufgewachsen,
wo sie amerikanische und britische Schulen an abgelegenen Orten besucht hatte, die sie in ihrem mit Bedacht gewählten American English mit leichtem Akzent bei ihren Diskussionsrunden gelegentlich fallen ließ, etwa wie »das ist aber interessant, denn in Indonesien gibt es diesen Brauch, dass die Knochen der Toten ausgegraben und wieder beerdigt werden«. Jennifer war von einer exotischen Schönheit, die über ihre englisch-walisischen Wurzeln hinwegtäuschen konnte, als wäre von jedem Land etwas an ihr haften geblieben, in dem sie gelebt hatte. Außerdem trug sie teure Designermode, auf die Sweeney begehrliche Blicke warf. Sie hatte eine gelangweilte, unbeeindruckte Art, die die anderen nervös machte.
Sweeney hatte angenommen, dass alle Studenten ihres Seminars ein bisschen in Jennifer verschossen waren, aber sie hatte Unrecht. Vielmehr bildete Becca den weiblichen Mittelpunkt des Seminars, Becca mit ihrem hellblonden schulterlangen Haar und kleinem sportlichem Körperbau in Fleecejacke und Trainingshose war die Einzige, die flirtete und mit der geflirtet wurde. Mehr als einmal hatte Sweeney Brad, Jaybee und Raj dabei beobachtet, wie sie Becca über ihre Tische hinweg anstarrten. Sie war eine gute Studentin, obwohl Sweeney bald für sich entschieden hatte, dass ihre Intelligenz eher das Resultat lebenslanger Erfahrungen in teuren Schulen als angeborene Brillanz war. Als Sweeney sich fragte, in welcher Beziehung Brad und Becca zueinander standen, spürte sie einen Anflug von Groll darüber, dass er viel intelligenter war als sie und etwas Besseres verdiente.
Jaybee sah zweifellos attraktiv aus, mit einer frechen, dunkelroten Haartolle und dunklen Augen, die immer zu flirten schienen. Er war faul, der Einzige, den Sweeney regelmäßig an die Abgabetermine für die Aufsätze erinnern musste, aber er war so charmant, dass sie ihm Dinge durchgehen ließ, die sie jemandem wie Ashley nie erlauben würde. Diese Erkenntnis verunsicherte sie, und sie versuchte, nicht zu viel darüber nachzudenken.
Ihre Studenten waren eine ulkige kleine Gruppe, die sich auch außerhalb des Seminars traf, doch Sweeney vermutete, dass sie abgesehen von Brad, Becca und Jaybee eigentlich andere Freunde hatten, mit denen sie sich verabredeten und an den Wochenenden ausgingen. Dass sie überhaupt Freunde geworden waren, lag nur
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