Der träumende Diamant 1 - Feuermagie
Edelstein sein können, soweit irgendjemand das aus dieser Höhe beurteilen konnte.
Sie allerdings konnte es. Sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen und die Hände auf das Geländer vor ihr zu legen, aber die Verlockungen des Diamanten zerrten an ihr. Sie fühlte ihn in ihrem Blut, in ihrem Pulsschlag, so wie jedes Mitglied des Stammes ihn zu spüren vermochte. Es lag in ihrer Natur, sich mit den Steinen zu verbinden. Und dieser eine - achtundneunzig Karat, in der Form einer Träne , wiederholte sie im Geiste - war von den Drákon vom Anfang ihrer Zeiten an sorgfältig behütet worden. Er hatte sogar einen Namen: Herte . Das Herz des Stammes.
Also würden die Leute des Stammes auch bei ihm sein. Sie würden sich nicht weit von ihm entfernen. Es war eine Falle, und zwar eine schlaue. Sie hatte immer gewusst, dass sie früher oder später nach ihr suchen würden, aber sie hatte fieberhaft auf ein Später gehofft.
Doch noch hatten sie Rue nicht gefangen genommen.
Eine Schweißperle rann ihr den Nacken hinunter und tropfte in das Gazetuch ihres Mieders. Hier oben schien es ihr plötzlich heißer zu sein, als es sonst für gewöhnlich im Juli war.
»Verdammt noch mal, ich kann das Ding nicht sehen«, murmelte der Mann, der von rechts gegen sie drängte, seiner Begleiterin zu. »Elende Touristen. Gehen wir.«
Sie rückte noch näher an das Geländer, als die beiden fortgingen. Ihre Füße waren zwischen den mit Schnitzereien verzierten Holzpfosten eingeklemmt, und ihre meergrünen Röcke wurden mitsamt den Reifen zu einer seidenen Schärpe hinter ihr. Von den Haupttüren aus wehte ein Luftzug hinein, der noch immer warm, aber mehr als willkommen war. Sie nahm einen tiefen Atemzug und spürte, wie die Locken ihrer Perücke nicht mehr an ihrer Stirn klebten.
»Er ist wunderbar«, bemerkte eine Frau, die näher getreten war und nun neben ihrem Ellbogen stand, während sie sich mit gelangweilten Bewegungen Luft zufächelte. »War den Preis der Eintrittskarte doch wert. Aber es gibt wahrlich keinen Markt für so etwas.«
Rue nickte zustimmend, wandte jedoch den Blick nicht von dem Stein ab. Es überraschte sie nicht, Mim hier zu treffen. Sie hatte im Laufe der letzten neun Jahre gelernt, dass nichts die Unterwelt so schnell zusammentrieb wie ein Spektakel.
»Viel zu einzigartig«, fuhr Mim leise fort und blickte ebenfalls geradeaus. »Ein lavendelblauer Diamant. Selbst wenn man ihn zerteilte, würde er noch für zu viel Aufmerksamkeit sorgen.«
»Du hast völlig recht.«
»Und das Museum ist zu gut bewacht. Davon habe ich mich selbst überzeugt.«
»Und wieder stimme ich dir zu.«
Der Fächer verlangsamte sich. »Und dann ist da natürlich noch die Sache mit dem Marquis. Ist er hier?«
Rues Finger verkrampften sich auf dem Geländer. Sie zwang sich, es wieder loszulassen. »Himmel, woher soll ich das wissen?«
»Folge doch einfach dem Schwarm der verzückten Frauen«, schlug Mim trocken vor. »Ich habe ihn einmal in der Drury Lane gesehen. Man muss sagen, die Gerüchte sind alle vollkommen wahr. Eine Mähne wie bei einem Dichter aus windzerzaustem Gold, eisgrüne Augen, die einen geradewegs durchdringen. Ich schwöre, jedes Haar meines Körpers hatte sich aufgerichtet, als er vorbeiging. Er ist unglaublich.«
»Und unbarmherzig«, platzte Rue heraus, ehe sie sich zügeln konnte.
»Das war es, was ich außerdem sagen wollte. Man möchte sich nicht den Zorn von jemandem zuziehen, der drei Männer im Duell getötet und zwei andere an den Galgen gebracht hat, nur weil sie versucht hatten, seine Taschen um einige Münzen zu erleichtern.«
»Nein«, antwortete Rue. »Sicherlich nicht.«
»›Das hellste Gesicht und das schwärzeste Herz.‹ Wer hat das noch über ihn gesagt? Erinnerst du dich? Es liegt mir auf der Zunge …« Der Fächer wurde noch langsamer, dann schnappte er zu. »Ach ja. Die Baronin von Zonnenburg, glaube ich. Unmittelbar, nachdem er sich von ihr getrennt hat.«
Rue erwiderte nichts. Mim warf ihr endlich einen Blick zu.
»Ich frage mich, was du hier tust, meine Freundin.«
»Einen schönen Stein bewundern. Das ist alles.«
»Nun, meine Liebe, wenn du dich entschließt, mehr zu tun, als zu bewundern, schlage ich vor, es dir noch einmal gut zu überlegen. Wir sehen uns.«
»Wir sehen uns.«
Mim tauchte in ihrer ungezwungenen Art wieder in der Menge unter.
Weiter unten waren der kleine Junge und seine Eltern aus ihrer begehrten Position vor dem Diamanten fortgedrängt worden. Einen Moment
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