Der transparente Mann (German Edition)
gebaut hatte. Joe wusste auch, dass sie diese Strafe mit Gleichmut über sich ergehen lassen musste, hoffte aber, ihre Männer würden sich bald wieder beruhigen. Die Pausen am Vor- und Nachmittag wurden nicht länger ausgelassen, die Mittagspause nicht mehr verkürzt. Joe war klar, dass nach fünf keiner ihrer Monteure mehr auf der Baustelle arbeiten würde. Unter diesen Umständen war es unmöglich, den Termin am Montag einzuhalten, wie sie es Wagenscheidt versprochen hatte. Sie war selbst daran schuld. Das wusste sie. Und ihre Männer konnte sie nur zurückgewinnen, wenn sie die Webpage gelöscht hatte. Sie musste sich ihrem Umfeld beugen, auch wenn sie selbst immer noch davon überzeugt war, dass die Wahrheit, so schmerzlich sie auch war. besser war als eine Lüge. Aber nur so ließ sich die alte Ruhe wiederherstellen.
Es war früher Nachmittag. Joe arbeitete schweigend neben Marc in einem der Badezimmer und prüfte die Dichtungen an den Wasserleitungen. Sie fühlte sich höchst unwohl, denn den ganzen Tag über hatte Marc kein einziges persönliches Wort mit ihr gewechselt.
»Hey! Pass doch auf!« Marc stand neben ihr und schaute warnend auf den Druckmesser.
Mist. Es war bereits zu spät. Joe hatte nur eine Sekunde nicht darauf geachtet, ob die Kunststoffstopfen in den Wasserleitungen tatsächlich feststeckten, schon landete ein Schwall Wasser auf ihrer Hose.
»Nichts passiert«, sagte sie und linste von der Seite verstohlen zu ihm hinüber. Der Stoff pappte patschnass an ihrem Oberschenkel. Sie schlug die Stopfen mit einem Hammer fest in das Rohr, sodass bei der nächsten Dichtungskontrolle nichts mehr passieren konnte. Dann erklärte sie wie nebenbei: »Heute Abend lösche ich die Webpage. Es fällt mir wirklich nicht leicht, die Seite aufzugeben, da ich die Idee immer noch sensationell finde, aber …«
»Sensationell?« Marc unterbrach sie und bedachte sie mit einem so prüfenden Blick, als wollte er ihr Innerstes erforschen. »Stell dir einfach vor, jemand nimmt sich das Leben, weil er auf deiner Webpage etwas entdeckt hat, was er nicht verkraften kann. Kannst du dann wirklich jede Schuld von dir weisen? Die Wahrheit kann auch töten. Ist das für dich so sensationell?«
»Blöde Frage!« Diese pathetische Auslegung machte Joe ärgerlich. Musste Marc so maßlos übertreiben? Und da Joe sich nur noch von lügenden und betrügenden Männern umgeben fühlte, glaubte sie, dass Marc nur deshalb so dramatisch gegen ihre Webpage insistierte, weil auch er etwas zu verbergen hatte. Sie fragte sich, wie seine heimliche Freundin wohl aussah, bei der er die Nacht verbrachte, wenn er frühmorgens nicht in seinem eigenen Bett anzutreffen war. Bei diesem Gedanken wurde Joe bewusst, dass sie selbst viel zu lange keinen Sex mehr gehabt hatte.
»Vielleicht stehst du ja auch im Netz. Wer weiß?« Joe bemühte sich um einen lustigen Tonfall und lächelte Marc augenzwinkernd, aber dennoch ein wenig herausfordernd an.
Doch anstatt zurückzulächeln und auf das Spiel einzugehen, entgegnete er nur kühl: »Das wirst du sicher längst abgeklärt haben.«
»Du bist zwar in meiner Firma wichtig, aber nicht in meinem Privatleben.« Joe stieß diese Worte patziger als beabsichtigt hervor, denn seine Art verletzte sie.
»Da kann man nur froh sein«, gab Marc unbeteiligt zurück.
Joe schluckte. Von diesem harten Schlagabtausch fühlte sie sich regelrecht überrollt, aber bevor sie etwas entgegnen konnte, klingelte ihr Handy in der Brusttasche, und es hörte nicht mehr auf zu klingeln, denn der Anruf kam aus der Firma. Demonstrativ verließ Marc das Bad, und Joe drückte auf Empfang. Es war ihr Vater.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, blaffte er so laut ins Telefon, dass Joe fast das Trommelfell platzte.
»Ich …«
Er ließ sie nicht aussprechen. »Bist du vollkommen übergeschnappt!? Was tust du uns an? Ich baue über Jahre unsere Firma auf, und du ruinierst sie mit so einer Aktion! Machst uns vor aller Welt lächerlich!«
»Papa, versteh doch. Ich kann …«
Er schnitt ihr das Wort ab. »Du bist heute um sechs im Büro. Pünktlich!« Dann legte er auf.
Auf einmal kam Joe sich so klein vor, als wäre sie gerade mal sechs Jahre alt.
Es war Zufall, dass Joe Konstantin schon von weitem sah. Sie hatte Glück gehabt, denn wäre sie nicht kurz nach dem Gespräch mit ihrem Vater in der Tiefgarage gewesen und gerade wieder auf dem Weg nach oben, hätte Konstantin sie eiskalt erwischt. So aber sah sie durch die
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