Der transparente Mann (German Edition)
umschlungen hatte.
»Keine Angst. Ich kann sehr wohl Berufliches und Privates trennen. Würdest du mich bitte vorbeilassen? Ich muss weiterarbeiten.«
Joe trat einen Schritt zur Seite und ließ ihn vorbei. Sie hörte seine Schritte verhallen, sagte aber nichts mehr, obwohl sie ihn am liebsten gebeten hätte zu bleiben.
Elf
Es war der dritte Tag, nachdem Joe die Webpage beerdigt hatte. Nichts Spektakuläres hatte sich seither ereignet. Entgegen ihren Befürchtungen war nicht einmal ihr Vater bislang auf der Baustelle erschienen. Auch hatte er sie nicht ins Büro zitiert, um ihr nachträglich die Vorwürfe zu machen, auf die Joe insgeheim wartete, denn sie wusste, dass sie berechtigt gewesen wären. Nach dem Aufstand der Männer, den die Webpage verursacht hatte, war die Firma nur knapp einer Katastrophe entgangen. Von der privaten Katastrophe mal ganz abgesehen. Jetzt aber schien das Leben wieder seinen gewohnten Gang zu gehen. Das Bauvorhaben war im Zeitplan, und Joe fühlte sich entspannt, als sie mit Huber, Hoffmann, Kulzer und Marc zur Mittagspause den Bauwagen betrat.
Hier drinnen war es warm und auf eine eigentümliche Weise gemütlich, denn der Regen und die Kälte des herannahenden Winters waren Joe in die Knochen gekrochen. Schnell zog sie ihre gelbe Regenjacke aus und trocknete die nassen Haare. Dann setzte sie sich zu ihren Männern an den Tisch. Als Joe das saftige Kassler, den Leberkäse und das frische Brot sah, lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Endlich verspürte sie Hunger! Die Zeiten, in denen der Stress ihr den Appetit geraubt hatte, schienen endgültig vorbei zu sein. Joe empfand das als gutes Zeichen.
»Na, wie wär's mit einer Runde?«, fragte Hoffmann, seine Leberkäse-Semmel kauend.
»Ich nicht«, antwortete Marc schroff, schnappte sich aus dem offenen Spind, vor dem er saß, ein dickes Buch und schirmte sich hinter den aufgeschlagenen Seiten ab. Joe kannte nur den Titel: Autobiografie eines Yogi, und sie hoffte, dass Marc nun nicht gänzlich aus ihrem Energiefeld verschwinden würde. Die anderen Monteure sahen Joe fragend an. Seit Tagen ging das schon so, dass Marc sich, sobald sie die Arbeit unterbrachen, in seine Lektüre vertiefte.
Joe bemühte sich um ein Lächeln und zuckte mit den Schultern, obgleich sie ganz genau wusste, warum Marc sich in letzter Zeit so sonderbar verhielt. Obwohl sie sich das nur ungern eingestand, bedrückte es sie zutiefst, dass er sie nun offensichtlich ablehnte. Vielleicht hatte er ja Recht. Es war besser, ein wenig Zeit verstreichen zu lassen, bevor sie sich einander wieder freundschaftlich und unbefangen nähern konnten. Die gemeinsame Nacht stand zu lebhaft in ihrer beider Erinnerung und hatte deutliche Spuren hinterlassen. Aber das alles konnte sie ihren Monteuren nicht erzählen.
»Spielen Sie denn mit, Joe?« Hoffmann wandte sich an sie, doch Joe schüttelte den Kopf und tat es Marc gleich, indem sie geschäftig die Tageszeitung aus ihrer Tasche nahm, die sie auf ihrem morgendlichen Weg zur Arbeit dem »Stummen Verkäufer« entnommen hatte. Während sie, Marc den Rücken zugewandt, demonstrativ darin blätterte, beobachtete sie Huber aus den Augenwinkeln. Auch er wirkte, als wäre sein Leben nicht von heute auf morgen aus den Fugen geraten. Dabei …
Nein, Joe wollte nicht daran denken! Nach wie vor quälte sie die Vorstellung einer erotischen Affäre zwischen Ludwig Huber und ihrer Mutter. Allein der Hauch eines Gedanken daran verursachte ihr körperliches Unwohlsein und schürte gleichzeitig Schuldgefühle. Joe verbot sich weiteres Grübeln und schob den unangenehmen Gedanken zur Seite. Sie trank einen Schluck von dem heißen Kaffee, den Hoffmann ihr eingeschenkt hatte, und vertiefte sich in ihre Lektüre.
Joe empfand Mitleid mit der Schauspielerin, über die an diesem Tag ganz groß auf Seite eins berichtet wurde. Nicht wegen ihres Erfolges, sondern wegen ihrer zerbrochenen Beziehung und dem daraus entstandenen Schuldenberg beherrschte sie die Titelseiten. Nein, dachte Joe, sie selbst hatte wahrhaft keinen Grund zu klagen. Besänftigt genoss sie den Leberkäse mit dem süßen Senf, bis die trügerische Ruhe mit einem Schlag zerstört war. Von Seite drei ihrer Tageszeitung lächelte Konstantin ihr in Farbe entgegen.
Joe starrte auf das Foto. Du Heuchler! Du verlogener Kerl! Warum habe ich dich nur jemals geliebt? Joe hasste ihn noch mehr für diese joviale Art, mit der er sich für das Foto strahlend vor seiner Galerie postiert hatte, um
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