Der Traum des Schattens
entdeckt zu werden, nein, am meisten grauste ihm vor dem, was er über Hanna und Kunun erfahren könnte. Sie war felsenfest davon überzeugt, seinen Bruder zu lieben, und er war sich nicht sicher, wie viel Schwärmerei über Kunun er ertragen konnte.
Atschorek hätte sich durchaus lautlos bewegen können, aber ihre Vorliebe für hochhackige Schuhe kostete sie diesen Vorteil. Das laute Klacken der Absätze kündigte sie bereits an, als sie noch im Nebenzimmer war. Wo sich wohl die nächste Pforte nach Magyria befand– im Garten, im Haus oder auf der Straße? Seine Schwester bevorzugte praktische Lösungen, und was konnte praktischer sein, als direkt in ihrem Flur zu landen?
» Fühl dich wie zu Hause, Hanna. Du bist ja nicht zum ersten Mal hier. Gut siehst du aus.«
Mattim ärgerte sich über sein Herzklopfen, als er vorsichtig um den Sessel herumspähte und einen kurzen Blick auf seine verlorene Liebste erhaschte. Sie trug die langen Haare offen, wie einen dunklen Schleier, und ein Halstuch, an dem ein hübscher Anhänger befestigt war. Ihre Stimme klang leicht angespannt, trotzdem wirkte sie lässig und selbstbewusst. Hanna konnte Atschorek locker das Wasser reichen.
Mattim hatte seine Schwester seit jenem Festabend nicht mehr gesehen. Bestimmt hätte sie sich zu gerne davon überzeugt, dass er litt. Wenn sie gewusst hätte, dass er hier hockte, hätte sie ihr Lächeln zweifellos wiedergefunden.
» Setz dich. Machen wir es uns gemütlich. Darf ich dir etwas anbieten? Ich nehme nicht an, dass du dir das Essen und Trinken komplett abgewöhnt hast.«
» Nein, das habe ich nicht«, sagte Hanna. » Meine Sinne sind schärfer geworden, da wäre es eine Schande, auf einen Genuss zu verzichten, der jetzt noch größer ist als früher.«
» Du sagst es«, meinte Atschorek munter. » Dieselbe Einstellung vertritt Kunun. Also, was darf es sein? Ich habe einen gut bestückten Weinkeller. Trotzdem würde ich dir eine einfache, selbstgemachte Limonade empfehlen. Die ist ganz schlicht, besteht nur aus Wasser, Zucker und frischer Zitrone. Je mehr Inhaltsstoffe ein Getränk hat, umso verwirrender für die Geschmacksknospen.«
» Dann nehme ich die Limonade, danke.«
Es dauerte eine Weile, bis das Gespräch in Gang kam. Mattim wurde langsam ungeduldig, obwohl er am liebsten stundenlang in Hannas Nähe gehockt hätte. Seine Beine begannen jedoch einzuschlafen, und auf einmal überkam ihn die irrationale Furcht, unvermittelt niesen zu müssen.
» Hat Kunun nie geliebt?«, fragte Hanna plötzlich. » In all den Jahren nicht? Kein einziges Mal?«
» Ach, jetzt versteh ich den Grund für deinen Besuch.«
» Wenn er schon mal eine Lichtprinzessin hatte, könnte er mich nicht richtig lieben, ist es nicht so? Bitte sag es mir, ich muss wissen, woran ich bin.«
» Es gibt viele Arten von Liebe. Schmeckt die Limonade?«
Hanna ließ sich nicht ablenken. » Du weichst mir aus. Ist es denn so schwer für dich, über ihn zu sprechen?« Sie klang anders als früher, erwachsener und zugleich gelöster, als hätte sie sich von allen Ängsten und Sorgen freigeschwommen.
» Die Antwort wird dir nicht gefallen«, kündigte Atschorek an. » Kunun hat jemanden geliebt, in der Tat. Es gab da ein Mädchen… aber das ist lange her. Sehr lange.«
» Was ist passiert?«
» Rate mal. Was kann eine Liebesgeschichte für ein Ende nehmen, wenn er ein Vampir ist und sie ein Mensch?«
Hanna zögerte. » Er musste zusehen, wie sie alt wurde und schließlich starb? Das hat ihm das Herz gebrochen, und er hat sich geschworen, nie wieder zu lieben. Dann bin ich gekommen, und er hat diesen Entschluss über den Haufen geworfen.«
Mattim stöhnte innerlich. Sie war so süß.
» Nein.« Atschorek lachte. » Leider daneben.«
Hanna versuchte es erneut. » Sie hatte einen Unfall. Er hat ihre Hand gehalten, als sie im Sterben lag, und ihr angeboten, sie in einen Vampir zu verwandeln. Mist, das geht ja gar nicht, dafür hätte er einen Schattenwolf gebraucht. Nein, er hat sie beschworen, so lange auszuhalten, bis er den Wolf hergebracht hat. War es eure Schwester Runia? Ihr habt mir erzählt, dass sie vor vielen Jahren ums Leben gekommen ist, in Wolfsgestalt.«
» Weit daneben«, meinte Atschorek. » Sehr, sehr weit. Einmal darfst du noch raten.«
Hanna seufzte, wahrscheinlich forschte sie in ihrer Fantasie nach einem dritten möglichen Ende. » Er hat sie verlassen, weil er ihr nicht zumuten konnte, ihn zu lieben. Das war das Schwerste, was er je getan
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