Der Traum des Schattens
langen Strecke, und obwohl sie eine Weile geschlafen hatte, fühlte sie sich alles andere als ausgeruht.
» Hunger habe ich auch noch. Aber lass dich nicht dazu verleiten, mir ein rohes Kaninchen oder so was zu bringen.«
Er stupste sie wieder an. Na los, schien er ihr sagen zu wollen, rede nicht so viel, beeil dich lieber.
Sie schenkte dem verwundeten Wolf einen letzten Blick, dann gehorchte sie seufzend und watete ins Wasser. Sofort trieb ihr Rock nach oben und wellte sich um sie wie eine exotische Seerose. Sie hätte ihn ausziehen sollen, um ungestört schwimmen zu können, aber halb nackt wieder aus dem Wasser zu steigen– wenn sie es denn schaffte– war keine angenehme Vorstellung. Vielleicht waren am anderen Ufer Menschen, die ihr helfen konnten.
Zögernd breitete sie die Arme aus und begann zu schwimmen. Die Strömung zog sie sofort mit. Kurze Zeit später erschien der edle Kopf mit den klugen Augen über der Wasseroberfläche. Der Wolf schwamm neben ihr. Wenigstens das war beruhigend. Er kam mit. Bei diesem Gedanken erst wurde ihr bewusst, dass sie ihn wirklich ungern zurückgelassen hätte.
» Wir schaffen das, oder?« Sie musste ihren Atem und ihre Kraft sparen.
Aus dieser Perspektive war das andere Ufer in unerreichbare Ferne gerückt. Das kalte Wasser zerrte an ihr. Es war wie ein Feind, den es zu besiegen galt, aber es riss sie auch aus ihrem verträumten Zustand, in dem sie glauben wollte, all das sei nicht real. Es war sogar beängstigend wirklich: Der Fluss, über dem sich das Licht sammelte und auflöste, der Wolf an ihrer Seite, der dunkle Wald, den sie hinter sich gelassen hatte, und darin der angeschossene Wolf. Ihr Kampfgeist war geweckt.
» Das wäre doch gelacht«, flüsterte sie.
Sie hoffte nur, dass der Rote ihr helfen konnte, wenn ihre Kräfte sie verließen.
Leichtfüßig wie eine Wölfin hetzte Hanna durch den Wald. Sachte flüsternd bewegten sich die Zweige im Wind, Blätter raschelten, schienen zu tuscheln. Trockene Zweige brachen unter ihren Schritten, Schmetterlinge stoben davon.
Etwas traf sie unvermittelt in den Rücken. Sie stürzte nach vorne, wehrte sich gegen das Gewicht, das über ihr lag und ihre Bewegungen einschränkte.
» Ich habe sie!«
Hanna kannte die Stimme. Sie gehörte Wikor, dem großen Flusshüter. Dunkel erinnerte sie sich daran, dass er sich geweigert hatte, als sie ihn dazu hatte zwingen wollen, gegen Akink zu marschieren. Sie hatte die frisch verwandelten Schatten dazu benutzt, König Farank zu stürzen, und Wikor hatte sich quergestellt– war es nicht so gewesen? Auch diese Erinnerung war unvollständig, denn Mattim fehlte in allen Bildern, die vor ihren Augen tanzten.
» Verräterin!«, zischte Wikor. » Du kannst dich nicht an Kununs Seite stellen und glauben, dass Mattims Freunde das hinnehmen.«
Er riss sie in die Höhe, und Hanna versetzte ihm einen Tritt gegen das Knie. » Ich bin nicht eure Feindin! Ich muss euch unbedingt…«
Er hörte ihr gar nicht zu, sondern bog ihren Arm brutal nach hinten. » Ich kann dich nicht töten ohne Feuer, aber kampfunfähig machen kann ich dich ganz gewiss.«
Sie schrie vor Schmerz auf, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Allein die Ungerechtigkeit des Ganzen war ihr zu gut bewusst, dass Mattims Verbündete sie gerade jetzt, da sie Kununs Pläne vereiteln wollte, geschnappt hatten.
» Hanna, so sehen wir uns also wieder.« Hinter ihnen stand der König. Und neben ihm… Mária?
» Du bist nicht tot?« Fassungslos starrte Hanna sie an. » Sie haben dich rechtzeitig in einen Schatten verwandelt?«
» Wie man sieht«, meinte Mária kühl. » Während du es ja nicht für nötig gehalten hast, mich darüber aufzuklären, was du bist… du Mörderbraut!«
» Sie muss sterben, bevor Mattim mit der Armee angreift«, sagte Wikor.
» König Farank!« Hanna wagte nicht, sich zu bewegen. Wikor war kurz davor, ihr die Schulter auszukugeln. » Ich muss mit Euch sprechen, bitte! Hört mich an!«
» Es tut mir leid, dass dies geschehen muss«, sagte Farank ernst. » Bevor du stirbst, sollst du wissen, dass es für die Sache des Lichts ist. Du wirst Mattim nicht daran hindern, Akink zu zerstören.« Er winkte, und ein paar Schatten mit Öllampen traten neben ihn.
» Nein!«, rief Hanna. » Es gibt ein Lichtkind!«
Farank hob die Hand. » Wartet. Was sagst du da? Ein Lichtkind? Meinst du etwa Mária? Dann täuschst du dich. Dieser Weg hat sich als Sackgasse erwiesen.«
» Nein, ich…« Sie wollte ihm die
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