Der Traum
das Bewußtsein wiederzuerlangen. Und die Huberts warteten. Es mußte also geschehen, daran konnten all ihre Tränen nichts ändern. Wenn sie diesen Tod gewollt hatten und ihnen ein totes Kind lieber war als ein aufrührerisches, so wollte Gott es mit ihnen. Was jetzt kam, entzog sich ihrer Macht, sie konnten sich nur noch unterwerfen. Sie bereuten nichts, doch ihr Sein verging vor Schmerz. Seitdem Angélique im Sterben lag, hatten sie sie selbst gepflegt und jede fremde Hilfe zurückgewiesen. Sie waren auch allein bei ihr in dieser letzten Stunde, und sie warteten.
Hubert öffnete gedankenverloren die Tür des Kachelofens, dessen Feuer klagend knisterte. Es wurde still, eine milde Wärme ließ die Rosen erblassen. Seit einer Weile horchte Hubertine auf die Geräusche in der Kathedrale hinter der Mauer. Das Anschlagen einer Glocke ließ die alten Steine erschauern; zweifellos verließ jetzt Abbé Cornille mit dem heiligen Öl die Kirche; und sie ging hinunter, ihn auf der Schwelle des Hauses zu empfangen.
Zwei Minuten verstrichen, lautes Gemurmel erfüllte die enge Treppe des Türmchens. Dann begann Hubert, aufs höchste erstaunt, in dem warmen Zimmer zu zittern, während fromme Furcht, aber auch Hoffnung ihn auf die Knie sinken ließ.
An Stelle des alten Priesters, den sie erwarteten, trat der Bischof ein, der Bischof im Spitzenrochett mit der violetten Stola und dem silbernen Gefäß, in welchem sich das Krankenöl befand, das von ihm selber am Gründonnerstag geweiht worden war. Seine Adleraugen blieben starr, sein schönes bleiches Gesicht unter den dichten Locken seines weißen Haares bewahrte Erhabenheit. Und hinter ihm schritt wie ein einfacher Geistlicher Abbé Cornille, ein Kruzifix in der Hand und das Rituale107 unter dem anderen Arm.
Der Bischof blieb einen Augenblick an der Tür stehen und sagte mit feierlicher Stimme:
»Pax huic domui.«108
»Et omnibus habitantibus in ea«109, antwortete leiser der Priester.
Als sie eingetreten waren, kniete Hubertine, die hinter ihnen heraufgekommen war und ebenfalls vor Ergriffenheit zitterte, sich neben ihrem Manne nieder. Sie hatten sich flehend niedergeworfen und beteten mit gefalteten Händen aus ganzer Seele.
Am Tage nach Féliciens Besuch bei Angélique hatte die schreckliche Auseinandersetzung zwischen ihm und seinem Vater stattgefunden. An jenem Tag erzwang er sich gleich am Morgen den Zutritt zu seinem Vater, ließ sich im Betzimmer selber empfangen, wo der Bischof nach einer jener Nächte furchtbaren Kampfes gegen die wiedererstehende Vergangenheit noch im Gebet lag. Bei diesem ehrerbietigen Sohn, der bisher von der Furcht niedergehalten wurde, brach die lange unterdrückte Empörung hervor; und es kam zu einem harten Zusammenstoß, als diese beiden zur Heftigkeit neigenden Männer aus demselben Blut aufeinanderprallten.
Der Alte, der von seinem Betstuhl aufgestanden war und dessen Wangen sich sogleich purpurrot färbten, hörte in hochmütigem Starrsinn stumm zu.
Der junge Mann, dessen Gesicht gleichfalls glühte, schüttete sein Herz aus, sprach mit einer Stimme, die sich nach und nach grollend erhob. Er berichtete, daß Angélique krank war und im Sterben lag, er erzählte, in welcher Aufwallung erschrockener Liebe er den Plan gefaßt habe, mit ihr zu fliehen, und wie sie sich mit der Entsagung und der Keuschheit einer Heiligen geweigert, ihm zu folgen. Wäre es nicht Mord, sie sterben zu lassen, dieses gehorsame Kind, das ihn nur aus der Hand seines Vaters empfangen wollte? Als sie ihn schließlich hätte haben können, ihn, seinen Titel, seinen Reichtum, hatte sie nein gerufen, hatte sie sich gesträubt und so sich selbst überwunden. Und er liebte sie gleichfalls mehr als sein Leben, er verachtete sich, daß er nicht an ihrer Seite weile, um mit demselben Atemzug gemeinsam mit ihr zu verlöschen! Würde man die Grausamkeit aufbringen, ihrer beider elendes Ende zu wünschen? Ach! Der Stolz auf den Namen, der Glanz des Geldes, das starrsinnige Bestehen auf dem Willen, hatte das überhaupt Gewicht, wenn es nur noch darum ging, zwei Menschen glücklich zu machen? Und außer sich, faltete er, rang er seine zitternden Hände, forderte er, noch flehend und doch schon drohend, eine Einwilligung.
Doch der Bischof entschloß sich nur, seine Lippen aufzutun, um mit dem Worte seiner Allmacht zu erwidern:
»Niemals!«
Da hatte Félicien in seiner Empörung wie ein Rasender geredet und keinerlei Rücksicht mehr genommen. Er sprach von seiner Mutter. Sie
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