Der Traum
auf dem Balkon. »Sie wollen mich doch nicht zwingen, mich dort hinabzustürzen ... Hören Sie doch, begreifen Sie, daß ich in mir trage, was mich umgibt. Die Dinge sprechen seit langem zu mir, ich höre Stimmen, und niemals habe ich sie so laut zu mir sprechen hören ... Da! Der ganze ClosMarie gibt mir den Mut, nicht mein Leben und nicht Ihr Leben zugrunde zu richten, indem ich mich gegen den Willen Ihres Vaters Ihnen hingebe. Diese singende Stimme, das ist der ChevrotteBach, so klar, so frisch, daß mir ist, als habe er seine kristallene Reinheit in mich gelegt. Dieses so zarte und tiefe Stimmengewirr ist das gesamte Gelände, das Gras, die Bäume, das ganze friedliche Leben dieses geheiligten Winkels, das sich um den Frieden meines eigenen Lebens müht. Und die Stimmen kommen aus noch größerer Ferne, aus den Ulmen des bischöflichen Gartens, von diesem Horizont von Zweigen, von denen der geringste noch an meinem Siege Anteil nimmt ... Da, hören Sie! Jene mächtige gebieterische Stimme, das ist meine alte Freundin, die Kathedrale, die mich unterwiesen hat und ewiglich wach ist in der Nacht. Jeder ihrer Steine, die Säulchen ihrer Fenster, die Türmchen ihrer Strebepfeiler, die Strebebögen ihrer Apsis haben ein Raunen, das ich heraushöre, eine Sprache, die ich verstehe. Hören Sie doch, was sie sagen, daß nämlich selbst im Tode noch die Hoffnung bleibt. Wenn man sich gedemütigt hat, bleibt und triumphiert die Liebe ... Und schließlich, sehen Sie nur, ist die Luft selber erfüllt von einem Flüstern von Seelen, das sind meine Gefährtinnen, die Jungfrauen, die unsichtbar herannahen. Hören Sie, hören Sie!« Lächelnd hatte sie mit einer Gebärde tiefer Aufmerksamkeit die Hand gehoben. Ihr ganzes Sein war entrückt in das Wehen ringsum. Es waren die Jungfrauen aus der »Legenda aurea«, die Angéliques Einbildungskraft wie einst in ihrer Kindheit heraufbeschwor und deren mystischer Flug aus dem alten Buch mit den kindlichen Bildern hervorging, das da auf dem Tische lag. Zuerst kam Agnes, in ihr Haar gehüllt, mit dem Verlobungsring des Priesters Paulinus am Finger. Dann die anderen alle, Barbara mit ihrem Turm, Genoveva mit ihren Lämmern, Cäcilia mit ihrer Viola, Agatha, der die Brustwarzen herausgerissen wurden, Elisabeth, die auf den Landstraßen bettelt, Katharina, die über die Gelehrten triumphiert. Ein Wunder macht Lucia so schwer, daß tausend Mann und fünfzig Joch Ochsen sie nicht zu einem sündigen Ort zu schleppen vermögen. Der Statthalter, der Anastasia umarmen will, wird mit Blindheit geschlagen. Und alle schweben weißschimmernd durch die klare Nacht, die Brust noch aufgerissen vom Martereisen, und statt des Blutes fließen Ströme von Milch herab. Die Luft ist rein davon, die Finsternis wird hell wie von Sternengeriesel. Ach, vor Liebe sterben wie sie, jungfräulich sterben, strahlend vor Reinheit beim ersten Kuß des Gatten jungfräulich sterben!
Félicien war wieder näher an sie herangetreten.
»Ich bin da, und ich lebe, Angélique, und Sie weisen mich um Ihrer Träume willen zurück ...«
»Träume«, murmelte sie.
»Denn wenn diese Erscheinungen Sie umgeben, so haben Sie selber sie geschaffen ... Kommen Sie, legen Sie nichts mehr von sich in die Dinge hinein, und sie werden schweigen.«
Sie machte eine schwärmerische Bewegung.
»O nein, sollen sie nur sprechen, sollen sie noch lauter sprechen! Sie sind meine Kraft, sie geben mir den Mut, Ihnen zu widerstehen ... Es ist die Gnade, und niemals hat sie eine solche Willenskraft über mich ausgegossen. Wenn sie auch nur ein Traum ist, der Traum, den ich in meine Umgebung hineingelegt und der wieder zu mir zurückkehrt, was bedeutet das schon! Er rettet mich, er trägt mich makellos inmitten der Erscheinungen davon ... Oh, entsagen Sie, gehorchen Sie wie ich! Ich will Ihnen nicht folgen.« In ihrer Schwäche hatte sie sich entschlossen, hatte sie sich unbesiegbar wieder aufgerichtet.
»Aber man hat uns getäuscht«, begann er wieder, »man hat sich bis zur Lüge erniedrigt, um uns zu trennen.«
»Die Sünde anderer würde unsere Sünde nicht entschuldigen.«
»Ach, Ihr Herz hat sich von mir zurückgezogen, Sie lieben mich nicht mehr.«
»Ich liebe Sie, ich kämpfe nur um unserer Liebe und unseres Glückes willen gegen Sie ... Erreichen Sie die Einwilligung Ihres Vaters, und ich werde Ihnen folgen.«
»Meines Vaters? Sie kennen meinen Vater nicht. Gott allein vermöchte ihn umzustimmen ... Es ist also zu Ende? Wenn mein Vater
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