Der Traum
»Kyrie eleison«113, das den ganzen Himmel für die erbärmliche Menschheit zu Hilfe rief.
Dann schwiegen plötzlich die Stimmen, tiefe Stille entstand. Der Bischof wusch sich die Finger unter den wenigen Wassertropfen, die der Abbé ihm aus der Kanne darübergoß. Schließlich ergriff er wieder das Gefäß mit dem heiligen Öl, nahm den Deckel ab, stellte sich vor das Bett. Es war das feierliche Nahen des Sakramentes, dieses letzten Sakramentes, dessen Wirkungskraft alle nicht vergebenen, schweren oder läßlichen Sünden auslöscht, die in der Seele zurückbleiben, nachdem man die anderen Sakramente empfangen hat: alte Reste vergessener Sünden, Sünden, die man unwissentlich begangen, Schwachheitssünden, die es nicht erlaubt hatten, sich wieder fest in der Gnade Gottes zu gründen. Doch woher sollte man sie nehmen, diese Sünden? Sie kamen also von draußen, in diesem Sonnenstrahl mit den tanzenden Stäubchen, die Lebenskeime bis zu diesem großen königlichen Bett trugen, das weiß und kalt war vom Tod einer Jungfrau?
Der Bischof hatte sich gesammelt, und, die Blicke wieder auf Angélique gerichtet, hatte er sich vergewissert, daß der schwache Atem noch immer ging. Er wehrte sich noch gegen jede menschliche Regung, wie er sie da so schmal in engelhafter, schon vergeistigter Schönheit liegen sah. Sein Daumen zitterte nicht, als er ihn sanft in das heilige Öl tauchte und die Salbung der fünf Teile des Körpers begann, in denen die Sinne wohnen, die fünf Fenster, durch welche das Böse in die Seele eindringt.
Zuerst strich er über die Augen, über die geschlossenen Lider, über das rechte, über das linke; und der Daumen zog leicht das Zeichen des Kreuzes.
»Per istam sanctam unctionem, et suam piissimam misericordiam, indulgeat tibi Dominus quidquid per visum deliquisti.«114
Und die Sünden der Augen waren ausgelöscht, die unzüchtigen Blicke, die unschickliche Neugier, die Eitelkeiten der Schauspiele, die schlechte Lektüre, die Tränen, die man ob sündhaften Kummers vergossen. Und sie kannte kein anderes Buch als die »Legenda aurea«, keinen anderen Horizont als die Apsis der Kathedrale, die ihr die übrige Welt versperrte. Und sie hatte nur im Kampf des Gehorsams gegen die Leidenschaft geweint.
Abbé Cornille nahm eins der Wattebäuschchen, trocknete damit die beiden Lider, steckte es dann in eine der weißen Papiertüten.
Dann salbte der Bischof die Ohren samt den Ohrläppchen von perlmutterner Durchsichtigkeit, das rechte Ohr, das linke Ohr, die das Zeichen des Kreuzes kaum benetzte.
»Per istam sanctam unctionem, et suam piissimam misericordiam, indulgeat tibi Dominus quidquid per auditum deliquisti.«115
Und der ganze Greuel des Hörens war getilgt, alle verderblichen Worte, alle verderbliche Musik, die üblen Nachreden, die Verleumdungen, die Gotteslästerungen, die unzüchtigen Reden, denen man mit Wohlgefallen zuhört, die Liebeslügen, die zur Versäumnis der Pflicht beitragen, die ruchlosen Gesänge, die die Fleischeslust aufstacheln, die Geigen der Orchester, die vor Wollust unter den Kronleuchtern schluchzen. Und in ihrer Abgeschiedenheit eines klösterlich lebenden Mädchens hatte sie niemals auch nur das ungehemmte Geschwätz der Nachbarinnen, den Fluch eines Fuhrmanns gehört, der auf seine Pferde einschlägt. Und sie hatte keine andere Musik in den Ohren als die heiligen Lobgesänge, das Brausen der Orgel, das Gebetsgestammel, bei denen das kühle kleine Haus an der Seite der alten Kirche ganz mitbebte.
Nachdem der Abbé die Ohren mit einem Wattebäuschchen getrocknet hatte, legte er dieses in eine der weißen Papiertüten.
Sodann ging der Bischof zu den Nasenflügeln über, die zwei Blütenblättern einer weißen Rose glichen, zum rechten, zum linken, die sein Daumen mit dem Zeichen des Kreuzes reinigte.
»Per istam sanctam unctionem, et suam piissimam misericordiam, indulgeat tibi Dominus quidquid per odoratum deliquisti.«116
Und der Geruchssinn kehrte zur ursprünglichen Unschuld zurück, rein gewaschen von jeglicher Befleckung, nicht nur von der schändlichen Sinneslust an den Wohlgerüchen, von der Verführung durch die Blumen mit dem zu süßen Atem, von den in der Luft verstreuten Gerüchen, die die Seele einschläfern, sondern überdies von den Sünden des inneren Geruchssinnes, von den schlechten Beispielen, die man anderen gegeben, der ansteckenden Pest des Anstößigen. Und sie, die Rechtschaffene, Reine, war schließlich eine Lilie unter Lilien geworden, eine
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