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Der Traumkicker - Roman

Der Traumkicker - Roman

Titel: Der Traumkicker - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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bereitgestellt hatte, aneinandergekoppelte Viehwaggons, innen mit langen Holzbänken ausgestattet und brechend voll mit Männern, Frauen und Kindern, die Blumen brachten, Kränze, Eimer mit Wasser und körbeweise Proviant. Außerdem strömten aus allen Himmelsrichtungen in endlosen Autoschlangen Hunderte ehemaliger Bewohner von Coya Sur herbei, die mittlerweile in Dörfern und Städten über das ganze Land verstreut lebten, heute aber in ihre alte Heimat reisten, um ihre lieben Toten zu besuchen. Es hatte sich herumgesprochen, dass Coya Sur bald eine Geistersiedlung sein würde (eine von ungezählten, die es in dem tausend Kilometer langen Wüstenstreifen schon gab) oder auch vollständig vom Antlitz der Erde verschwinden würde, wie einige prophezeiten, und deshalb kamen in diesem Jahr weit mehr Menschen als sonst, um neu zu entfachen, was an Glut in der Asche ihrer Erinnerungen noch vorhanden war.
    Bei Tagesanbruch war die Siedlung ein einziger Morast gewesen (der Schlamm bedeckte nicht nur die Straßen, sondern rings um die Siedlung alles, so weit das Auge reichte), doch schon am Mittag hatte die Wüstensonne die Nässe unerbittlich aufgesogen und das Salzgetrocknet. Alles war zu einer rostroten Kruste erstarrt, schroff und rau wie der Panzer eines Gürteltiers. Was aber nicht verhinderte, dass sich unsere Hauptstraße mit Besuchern füllte, die auf dem Weg zum Friedhof waren und sie für diesen einen Tag in die belebte Flaniermeile einer Großstadt verwandelten. Die ehemaligen Einwohner grüßten mit großem Hallo nach rechts und links und geizten nicht mit Umarmungen, Geschenken und Schulterklopfen. Nach ihrem Besuch auf dem Friedhof bestellten sie an den großen und kleinen Tischen in unseren Schenken eine Flasche nach der anderen und feierten das Wiedersehen mit alten Freunden, mit Nachbarn und Arbeitskollegen von einst, die auch nach all der Zeit (»wie verdammt schnell doch die Zeit vergeht, Kumpel«) noch vertraut waren wie die unverrückbaren kargen Gipfel hinten am Horizont der Wüstenlandschaft.
    Auf dem Friedhof herrschte trotz der stechenden Sonne (groß und gerötet wie der Kopf eines Schwachsinnigen) ausgelassene Festtagsstimmung. Draußen an der Mauer hatten die fliegenden Händler unter Sonnensegeln oder Wellblechdächern einen riesigen Markt aufgebaut, auf dem sich alles fand, was die Welt an nutzlosem Krempel zu bieten hatte; und daneben natürlich köstliche süße Brötchen, Eis am Stiel in allen Farben und Geschmacksrichtungen, saftiges Lamm vom Grill und der ewige und unvermeidliche Pfirsichsaft mit Graupen, den die Händler in großen, mit nasser Jute abgedeckten Tongefäßen kühl hielten, weil »bei dieser scheiß Hitze, mein Lieber, da ist ein Eisblock schneller verschwundenals ein belegtes Brötchen im Rachen von Doña María Marabunta«.
    Die Hinterbliebenen verbrachten fröhlich etwas Zeit mit ihren Toten, als wären sie zu einem Ausflug auf dem Land oder am Strand. Neben Sonnenschirmen und Klappstühlen, Bierkästen und Korbflaschen mit Wein hatten alle ihre Kofferradios oder brandneuen tragbaren Plattenspieler dabei. Während Grabsteine und Familiengräber gesäubert, zurechtgemacht und frisch gestrichen wurden, man die Gräber der Erwachsenen mit Porträts, die Kindergräber mit Spielzeug schmückte und Namen und Daten auf den Kreuzen und Steinen ausbesserte, wurde kräftig gegessen und auf die Gesundheit der Verstorbenen angestoßen (man verschüttete ein bisschen Wein als Zeichen der Verbundenheit auf den Gräbern), und dazu lief über die batteriebetriebenen Apparate in voller Lautstärke die Lieblingsmusik des oder der jeweiligen Hingeschiedenen. Zu schweigen von den besonders sentimentalen Hinterbliebenen, die eine unzweifelhaft künstlerische Ader besaßen, mit Gitarre oder Charango zum Friedhof kamen, einen Fuß auf eine Ecke der Grabeinfassung stellten und ihren Toten selbst die geliebten Lieder sangen oder ihnen mit von Trauer durchtränkter Stimme Klagelieder oder Gedichte aus der eigenen Feder vortrugen.
    Es war Mittag vorbei, der frühe Besuch bei unseren Toten lag hinter uns, und wir saßen im Schatten vorm Rancho Grande, sahen dem gemächlichen Zug der Menschen zu, die unter der sengenden Sonne vom Friedhof kamen oder zum Friedhof gingen, als plötzlich hinterder Ecke des Kinos kein anderer als Tarzán Tirado auftauchte. Wer auch immer um diese Uhrzeit in den Läden in unserer Geschäftsstraße sein Scherflein Zucker oder seinen Achtelliter Öl kaufte, konnte sehen,

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