Der Traummann aus der Zukunft (German Edition)
Architektenbüros in der Friedrichstraße. Da stand sein Name, daneben eine Emailadresse und es gab sogar ein Bild. Das Bild war zwar klein und ließ sich nicht vergrößern, aber immerhin, er hatte dunkelblonde Haare, halblang bis zu den Ohren. Mit Photoshop versuchte Emilia herauszuholen, was ging, aber die Augenfarbe ließ sich leider nicht eindeutig definieren. Emilia betrachtete das Foto. Es gab trotzdem keinen Zweifel. Das Lächeln hatte sie bereits auf dem Spielplatz kennengelernt. Nur dass er hier im weißen Hemd viel förmlicher aussah, Respekt einflößend. Kein Bauarbeiter, sondern ein gut aussehender, erfolgreicher Architekt, der mit einem Chef und drei Mitarbeitern für eine große Berliner Immobiliengesellschaft arbeitete. Emilia wurde ein bisschen komisch. Sie sah Bernhards Unterhosen und Miguels weißes Hemd nebeneinander. Sie sah ihre schlecht funktionierende Patchwork-Familie und Miguels heile, fröhliche Bio-Familie, sie sah Bernhard in seiner dunklen Höhle und Miguel in seinem Licht durchfluteten Büro, sie sah Bernhards düsteren Blick und Miguels offenes Lächeln, sie sah sich selbst dazwischen, absurderweise in der Küche und sie fühlte sich irgendwie angegraut und mit einer dicken Kruste bedeckt. Sie fühlte sich furchtbar weit weg von dem Bild, was sie sich von Miguel machte und gleichzeitig furchtbar davon angezogen, als wäre er das Licht am Ende des Tunnels.
Emilia studierte Miguels mit Photoshop vergrößerten und pixeligen Mund. Würde sie ihn irgendwann küssen? Peinlicher Gedanke. Hastig klickte sie die Seite weg, als könnte das Foto von Miguel diesen Gedanken hören. Auf einmal kam sie sich vor wie eine Stalkerin. Sie spionierte einen wildfremden Mann aus. Das ging erschreckend einfach im Internet. Und er ahnte nicht das Geringste davon. Hildas Gedanken ergriffen von Emilia Besitz, als müssten sie es in Hildas Abwesenheit übernehmen, auf Emilia aufzupassen: Sie sollte sich in nichts hineinzusteigern. Bestimmt war die Wahrsagerin eine Bekannte von Miguel. Bestimmt war sie begabt und wollte Emilia nur eine Vision von einem Leben geben, mit der sie ihr eigenes Leben abgleichen konnte. Emilia stellte sich vor den Spiegel im Flur. Sie fand sich blass. Ihre Locken waren an den Enden strohig. Ihr blaues Kleid war drei Jahre alt und hatte seine Form verloren, ihre Schuhe waren ausgetreten. Und ihr Leben? Brauchte es nicht mal wieder ein Ziel? Bernhard wollte nicht, dass sie irgendwo außerhalb arbeitete. Sie hatten genug Geld und um Emilias Lektoren-Job würden sich viele andere reißen. Hilda hielt sie dagegen für eine Gefangene. Bernhard hatte doch nur Angst, sie an die Außenwelt zu verlieren. Mit diesem Job, den sie durch ihn hatte, konnte er sie gut kontrollieren. Emilia hatte das immer abgestritten. Jetzt auf einmal fühlte sie sich jedoch zu Hause eingesperrt und vergessen.
Emilia wollte Miguel kennenlernen! Aber erst mal wollte sie sich wieder ein bisschen schön fühlen. Auch wenn sie ihm nur eine Email schreiben würde, deren Inhalt ihr überhaupt noch nicht klar war. Sie würde das nicht mit Strohhaar und in Filzpantoffeln tun. Sie band ihre Haare zu einem Zopf zusammen, schnappte sich ihre Tasche und schlüpfte in ihre ausgeleierten Sandalen.
Das dunkelrote Kleid war viel zu teuer gewesen, aber es passte so gut zu den roten Schuhen, es hatte genau die gleiche Farbe und es saß perfekt an Emilias Körper. Die roten Schuhe mit sieben Zentimeter hohem Absatz hatte Emilia schon von Weitem im Schaufenster gesehen. Sie hatten gewinkt und gerufen! So musste es sein. Emilia mochte beim Shoppen nicht nach Dingen suchen. Die Dinge mussten bereits auf sie warten. Es war bestimmt zehn oder fünfzehn Jahre her, dass sie zum letzten Mal rote Schuhe gekauft hatte. Allerdings waren ihre Schuhe nie so hoch gewesen, nie über fünf Zentimeter. Und sie hatte auch nie Stöckelschuhe getragen, eher massives Plateau. Das gab ihr das Gefühl, am Boden gehalten zu werden. Die neuen Schuhe besaßen ebenfalls keinen Pfennigabsatz, nur eine ziemlich hohe, durchgehende Korksohle. Sie waren auch nicht laut, sondern leise.
Zwei Stunden nach ihrer spontanen Shoppingtour betrachtete sich Emilia also wieder im Spiegel. Mit frisch gewaschenen Haaren und neuem Outfit. Und mit ganz neuer Körpergröße. Emilia sah auf das zu lektorierende Manuskript auf dem Küchentisch herab und dann auf die Uhr. Mist. Jeden Moment konnte Bernhard zur Tür hereinkommen und sie hatte noch keine einzige Seite gelesen.
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