Der Traurige Polizist
Griffe geschickt und sicher,
und auf ihrem Gesicht spiegelte sich der goldene Schein der frühmorgendlichen Sonne. Sie sagte etwas. Die anderen Frauen hörten
zu. Und lachten. Seine Mutter – jene Frau, die durch das elende Gebrüll ihres Mannes zu Hause in Schach gehalten wurde – erheiterte
die anderen Frauen. An jenem Morgen erhaschte er einen Blick auf jemanden, den er niemals kennenlernen würde.
»Ich glaube, sie hatte mich ganz vergessen«, sagte er zu Hanna Nortier. »Meine Mutter ahmte jemanden nach. Ich weiß nicht,
wen – vielleicht eine andere Frau. Am Straßenrand, kurz nach sieben am Morgen. Sie ging ein wenig den Bürgersteig entlang,
sie wandte sich um und wurde jemand anders – ihr Gang, ihre Haltung, so wie sie den Kopf drehte und den Hals bewegte, ihre
Hände und Arme. ›Wer bin ich?‹ fragte sie. Die anderen Frauen lachten so sehr, daß sie gar nichts sagen konnten. ›Ich mach
mich gleich naß‹, kicherte eine. Ich weiß das noch, weil es mich erschreckte. Zwischen Lachsalven riefen sie den Namen der
Frau, die meine Mutter nachmachte. Und dann klatschten sie. Meine Mutter verneigte sich mit einem Lächeln, und die Sonne schien,
und dann sah ich, daß meine Mutter wunderschön war, mit ihrer zarten Haut, ihren roten Wangen und ihren leuchtenden Augen.«
|165| Er schwieg. Die Zigarette war heruntergebrannt.
»Ich habe mich erst wieder daran erinnert, als wir sie begruben.«
Sie schrieb etwas in die Akte. Joubert drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und wischte sich mit einer Hand über die
Oberlippe. Er roch den Tabak und den Rauch an seinen Fingern, ein unangenehmer Geruch.
»Vielleicht war ich enttäuscht von ihr. Später. Weil sie sich nie gegen meinen Vater auflehnte. Weil sie ihn nicht wegen seiner
Tyrannei und seiner Sauferei und seinem Geschrei verließ. Sie war so … passiv. Nein, mehr als passiv. Sie … Freitagabends,
wenn mein Vater in der Bar saß, sprach sie nie darüber. Sie sagte nie: ›Geh und hol deinen Vater zum Abendessen aus der Bar.‹
Sie sagte: ›Geh und schau nach deinem Vater.‹ Als könnte er auch irgendwo anders sein. Und wenn ich zurückkam und sagte, daß
er nichts essen wollte, dann schien sie mich gar nicht zu hören. Als hätte sie die unendliche Fähigkeit, die Wirklichkeit
auszublenden und ihre eigene zu erfinden.«
»Wieviel davon haben Sie geerbt?« Ihre Stimme klang schärfer, beinahe vorwurfsvoll. Er bemerkte, daß dies die erste psychologische
Betrachtung war, die sie von ihm erwartete.
Joubert versuchte darüber nachzudenken, aber sie ließ locker, ihre Stimme war wieder sanft. »Fiel es Ihnen leicht, mit Mädchen
auszugehen? Später?«
Irgendwo in seinem Kopf ging eine leise Alarmglocke los. Wohin führte das? Seine Mutter. Seine Freundinnen?
»Nein.«
Er wollte sich dieser Erinnerung nicht stellen, den unangenehmen Gefühlen, der nagenden Unsicherheit der Pubertät, jener Zeit,
die ihm so große Schwierigkeiten bereitet hatte. |166| Hanna Nortier war so dünn und klein. Wie konnte sie verstehen? »Ich war riesig, Doktor – sogar in der Schule.« Nicht nur groß.
Mächtig. Er wußte, daß er sich in seinem Körper nicht so wohl fühlte wie die anderen Jungen – die Fliegengewichte, die Außenspieler,
die Kurzstreckenhelden. Die anderen stolzierten umher wie hochgezüchtete Rennpferde, er hingegen kämpfte mit schweren, dumpfen
Bewegungen gegen die Schwerkraft. Er war überzeugt, daß er sich deswegen gar nicht erst Hoffnungen auf eine Freundin machen
mußte. Acht Jahre nach dem Schulabschluß traf er eine Klassenkameradin wieder, die ihn fragte, ob er eigentlich gewußt hatte,
daß sie in der Schule in ihn verliebt gewesen war. Er konnte es nicht glauben.
»Ich hatte nie eine Freundin. Diejenige, die mit mir zum Abschlußball ging … Meine Mutter und ihre Mutter haben das verabredet.
Wie eine arrangierte Ehe.«
»Hat Sie das gestört? Daß Sie keine Freundin hatten?«
Er dachte darüber nach.
»Ich habe gelesen.«
Sie wartete.
»Bücher erschaffen ihre eigene Wirklichkeit, Frau Doktor. In Büchern gibt es keine ungeschickten Helden. Und stets ein Happy-End.
Selbst wenn der Held Fehler macht, bekommt er trotzdem am Ende immer die Heldin. Ich dachte, daß ich einfach nur geduldig
sein müßte. Bis dahin wären die Bücher genug.«
»Ihre erste Freundin?«
Alarmglocken. Der Prozeß war nun klar. Seine Mutter, seine Freundinnen, der Weg zu Lara Joubert. Und, großer Gott,
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