Der Traurige Polizist
Mörder nicht aufhalten dürfe. Daß man den Mörder nicht bestrafen dürfe.
Sie schrieb einen Vor- und einen Nachnamen, mit zitternder Hand, aber dennoch lesbar.
Sie setzte hinzu:
Mama, vergib mir
, obwohl ihr Vater auch noch lebte, und sie unterschrieb den Brief:
Carrie
. Dann legte sie den Stift neben das Blatt Papier und ging zum Fenster. Sie öffnete es weit, sie hob den Fuß und stemmte ihn
auf das Sims. Sie zog sich hoch, balancierte einen Augenblick, dann fiel sie.
Sie stürzte geräuschlos, abgesehen vom Knattern des Stoffes ihres Rocks im Wind, wie eine Flagge.
Später, als das Heulen der Sirene das Dröhnen der Stadt übertönte, änderte sich der Wind. Er wehte sanft durch das offene
Fenster im dreizehnten Stock, griff wie mit einer unsichtbaren Hand nach dem einzelnen Blatt blauem Briefpapier und ließ es
in dem schmalen, dunklen Spalt zwischen Ankleidetisch und Wand verschwinden.
Joubert saß auf seiner vorderen
Stoep
und schaute zu den blaß schimmernden Sternen hinauf. Er wußte nicht recht, was er mit seiner neuen Einsicht anfangen sollte.
Und doch wußte er, daß sich etwas verändert hatte.
Vor ein oder zwei Wochen, einem Monat, einem Jahr war ihm die Vorstellung seiner Pistole im Mund so logisch erschienen. |197| Es war kein Wunsch, aber ein logischer Ausweg, ein Werkzeug, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Jetzt, wenn er an den Augenblick
der Wahrheit dachte, wenn die Hand nach der Waffe greifen müßte, wenn die Lippen sich öffnen und die Finger sich krümmen müßten,
wünschte sich Mat Joubert, noch eine Weile zu leben.
Kurz überlegte er, warum es sich verändert hatte: War es der Triumph der großen Erektion? Die Vielschichtigkeit Hanna Nortiers?
Aber dann dachte er an andere Dinge.
Er würde ein Krüppel sein, dachte er. So eine Art Ferdy Ferreira. Er mußte Lara Joubert mit sich nehmen – wenn er Hanna Nortier
nicht alles erzählen konnte. Er mußte diese Ladung Schmerz den Rest seines Lebens mit sich herumschleppen.
Konnte er das schaffen?
Vielleicht.
Er erhob sich von der kalten
Stoep
, streckte die Arme und spürte die Muskeln seines Rückens und seiner Schultern, die vage, angenehme Erschöpfung von Muskeln,
die er beim Schwimmen gebraucht hatte.
Vielleicht, dachte er.
Joubert drehte sich um, er ging ins Haus, schloß die Tür hinter sich ab und ging ins Gästezimmer, auf der Suche nach etwas
zu lesen. Die Taschenbücher bildeten einen unordentlichen Haufen.
Er mußte Regale anbringen, dachte er, und blieb einen Moment in der Tür stehen, schaute sich um, dachte nach. Er war sich
seines Drangs bewußt, die Bücher zu ordnen, sie nach Autoren zu sortieren, jedes sollte seinen Platz bekommen.
Er betrat das Zimmer, kniete sich neben den Haufen und griff nach dem obersten Buch.
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Dr. Hanna Nortier lag auf dem Sofa. Er saß auf einem Stuhl neben ihr. Er strich mit zärtlichen, mechanischen Bewegungen über
das farblose Haar. Sein Herz war erfüllt von Liebe und Mitleid für sie. Er sprach mit ihr. Er schüttete sein Herz aus. Tränen
liefen über seine Wangen. Seine Hand legte sich auf ihre Brust, die klein und zart war wie ein Vogel, seine Finger massierten
vorsichtig ihren Körper. Er sah sie an. Er sah, daß sie blaß war. Ihm wurde klar, daß sie tot war. Aber warum stieß sie dann
so schrille Geräusche aus? Der Wecker. Er schlug die Augen auf. Die grünen Ziffern auf dem Wecker zeigten 6.30 Uhr.
Er stand sofort auf und fuhr ins Schwimmbad. Er schwamm entschlossen sieben Bahnen, bevor er sich ausruhen mußte. Als er sich
besser fühlte, schwamm er noch zwei, langsamer.
Joubert kaufte sich wegen der Schlagzeile eine Zeitung, als er für ein Päckchen Special Milds anhielt. KASSIERERIN IN ANGST
VOR MAUSER war die größte. Eine kleinere Unterzeile: IST DER »SÜSSE«-RÄUBER EIN SERIENMÖRDER?
Er las die Berichte vor dem Café in seinem Wagen. Die Hauptmeldung bestand aus dem Satz, den der Bankräuber zu Rosa Wasserman
gesagt hatte, aber es gab noch andere, kleinere Berichte über die Verbrechen. In einem versuchte ein Reporter |199| mit Hilfe der Daten eine Verbindung zwischen den Morden und den Banküberfällen herzustellen. In einem anderen befragte man
Dr. A. L. Boshoff von der »Fakultät Kriminologie, Universität Stellenbosch« über die Psyche eines Serienmörders.
Joubert faltete die Zeitung zusammen. Er preßte die Lippen aufeinander. Er hatte noch nie an einem Fall gearbeitet, über den
so
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