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Der Tribun

Der Tribun

Titel: Der Tribun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Kammerer
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menschenähnliche Gestalt, deren bloßer Anblick die Angst der Römer und Griechen vor den Barbaren des Nordens rechtfertigte.
    Widerstrebend tauchte Cinna in den finsteren Kreis ein, begafft wie ein schädliches Insekt. Er schauderte, als der Koloss, flankiert von zwei weiteren Männern überaus ansehnlicher Statur, sich ihm gemächlich zuwandte. Der Riese, der etwa das Alter seines Vaters haben mochte, zog die buschigen Brauen zusammen, was zwei senkrechte Linien in seine Stirn schnitt, und forderte Hraban mit einem Wink auf zu sprechen. Das also war der zurückgekehrte Herr dieser Siedlung, von dem Sunja gesprochen hatte, ihr Vater Inguiotar, Herr über drei cheruskische Gaue westlich des Visurgis, der sich befugt wähnte, über den Entführten zu entscheiden.
    Während Hraban wohl Bericht erstattete, starrten die Barbaren Cinna voll hasserfüllter Neugier an, was er wie einen Pfeilhagel wehrlos hinnehmen musste. Der Riese indes würdigte ihn keines Blickes; erst nachdem sein Sohn verstummt war, betrachtete er den Gefangenen nachdenklich, wobei er hinter dichtem Bartgestrüpp auf den Lippen zu kauen schien. Dann beriet der Riese sich mit den neben ihm Stehenden, während Cinna die Erhaltung seiner stolzen Maske zusehends schwerer fiel. Er kämpfte mit dem in die Wangen steigenden Blut, das Wut und Scham verraten hätte, reckte das Kinn in die Höhe und versuchte, teilnahmslos durch diese Anführer eines gesetzlosen Barbarenhaufens hindurchzustarren.
    »Mein Vater fragt, mit welchem Auftrag und welchem Ziel du von Mogontiacum aufgebrochen bist«, übersetzte das Mädchen die Frage des Riesen.
    Cinna blieb stumm.
    Mit einer hochgezogenen Braue erwiderte der Riese das standhafte Schweigen Cinnas, der insgeheim fürchtete, die Barbaren würden zu Mitteln greifen, wie sie die Heeresleitung in solcher Situation anwendete. Schließlich zog der Riese unter dem Sitz die aufgefädelten Wachstafeln hervor, die Cinna voller Schrecken erkannte. Der Deckel der Siegelkapsel war abgerissen und die Riemen hingen lose herab. Der Riese klappte das Dokument auf und wendete die Tafeln in den großen Händen, ohne ihnen besondere Beachtung zu schenken. Er reichte sie einem der Umstehenden, der sie Hraban übergab, bis schließlich Cinna das äußerst wichtige, streng geheime Dokument selbst in den Händen hielt.
    Er strich darüber, berührte das gewaltsam erbrochene Siegel des Legaten von Mogontiacum, der ihn persönlich mit dieser Nachricht betraut hatte. Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimme des Riesen knurren, grollen und zischen, hörte das Murmeln der Umstehenden, hörte die Stimme des Mädchens neben sich, die ihm die Worte ihres Vaters übersetzte. Sie sprach vom Heer des Legaten Varus, drei Legionen und einigen Hilfstruppen, die zu den Marsern ziehen sollten, von Angreifern, die den Tross plünderten, der im Schlamm zu versinken drohte. Von vergeblichen Schanzarbeiten, von ständigen Angriffen aus dem Hinterhalt, von Gefangennahmen, Hinrichtungen und Opferungen, von vergeblicher Flucht. Von einem Krieger, der einen halb verkohlten Leichnam gefunden, den Toten verstümmelt und den angesengten Kopf als scheußliche Trophäe zu seinem Fürsten gebracht hatte. Den Kopf des Statthalters des Augustus, des Publius Quinctilius Varus.
    Benommen stand Cinna inmitten des Jubels, und seine Finger umkrampften die Täfelchen. Meuternde Hilfstruppen und ein paar eilig zusammengesammelte Trupps Aufständischer hatten tausende schwer bewaffneter und gut ausgebildeter Legionäre versprengt oder getötet. Nur gedämpft erreichte ihn die Stimme des Mädchens, und der fragende Ausdruck der hochgezogenen Brauen des Riesen durchdrang kaum den Schleier vor seinen Augen. Unter der Wucht, mit der die unglaublichen Nachrichten auf ihn eingeprasselt waren, wankend, strich er sich eine verschwitzte Strähne aus der Stirn, starrte die steilen Buchstaben im dunklen Wachs an und haspelte in tonloser Verwirrung wieder und wieder den einzigen Satz herunter, zu dessen Vollendung Zunge und Lippen fähig waren – das könne nicht sein, das könne nicht sein.
    Langsam schlichen sich Worte, die er las, in sein Bewusstsein, die Nachricht an den Legaten Quinctilius Varus. Zuverlässige Quellen hätten unter Eid berichtet, dass eine groß angelegte Verschwörung vorbereitet worden sei: Die Streitmacht solle in einen Hinterhalt gelockt werden, abtrünnige Fürsten aus mehreren Stämmen hätten Trupps zur Verfügung gestellt und die germanischen Cohorten seien

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