Der Tribun
vermutlich bereits geschlossen übergelaufen. Die im Lager befindlichen Fürsten und Offiziere germanischer Abstammung seien unverzüglich zu verhaften und der Heeresleitung in Mogontiacum zu überstellen. Gegenwehr sei mit der gebotenen Härte zu ersticken.
Zerstreut nagte Cinna an den Fingernägeln. Niemand würde kommen, um ihn zu befreien. Der ziellos umhertastende Blick fiel auf einen Dolch, der locker in einer Lederscheide am Gürtel seines Bewachers hing, innerhalb seiner Reichweite. Er war verloren. So gut wie tot. Die Wilden würden ihr schändliches Werk bald an ihm vollenden. Er starrte die tödliche Waffe an, die so nahe war. Noch wollten sie ihn lebend. Und dies zu vereiteln war das Einzige, was in seiner Macht stand. Den Gedanken, sich auf den selbstgefälligen Riesen zu stürzen, verwarf er angesichts der gegnerischen Übermacht. Dennoch sträubte sich alles in ihm, sich den Wilden lebend zu überlassen, welche die Verbrechen der Meuterer und Aufständischen bejubelten. Sie waren abgelenkt. Sie beachteten ihn nicht.
Er griff mit der Linken nach dem Dolch. Schreie gellten auf. Ein Stoß schleuderte ihn zu Boden. Der Sohn des Riesen kniete auf seiner Brust und umklammerte sein Handgelenk mit großen, eisernen Fingern, denen er nicht standhalten konnte. Der hölzerne Griff entglitt ihm. Hraban steckte die Waffe zurück, und während Cinna stumm und gesenkten Hauptes auf der nackten Erde kauerte, kehrte allmählich Ruhe ein.
Dumpf vernahm Cinna die Nachricht, dass sich keine einzige schlagkräftige römische Heereseinheit mehr in den Gebieten diesseits des Stromes befinde, nur versprengte Flüchtlinge. Er war zu spät aufgebrochen. Er hatte sich aufhalten lassen. Er hatte versagt.
*
Im Morgengrauen erwachte Cinna vom Knirschen der Handmühle. Am Herd kniete die Sklavin und zerrieb Weizenkörner zwischen zwei rund geschliffenen Steinen und warf das grobe Schrot in einen Topf, der über dem Feuer hing, um Grütze zu kochen.
Cinna streckte sich, als sein Blick auf die von der Luke im gegenüberliegenden Giebel schwach beleuchtete Wand fiel. Der Wölfsbalg wurde jetzt von einem großen, achteckigen Schild bedeckt, bemalt mit der verschlungenen Darstellung eines Wolfes, der sich wohl im Todeskampf krümmte, vielleicht eine Erinnerung an die Jagd, bei welcher der Balg erbeutet worden war. Dahinter kreuzten sich zwei Speere, zwischen deren weit auseinander klaffenden Spitzen ein langes Schwert waagerecht an der Wand befestigt war, die weißlederne Scheide mit durchbrochenen Silberbeschlägen verziert. Obwohl das Anwesen mehr den Eindruck eines Bauernhofs machte, bewiesen die kostbaren Waffen den hohen Rang ihres Eigentümers, des Hausherrn, der am vergangenen Tag zurückgekehrt war.
Cinna räusperte sich. Zurückgekehrt von einer Schlacht. Drei Legionen wollten sie geschlagen haben, die Siebzehnte, Achtzehnte und Neunzehnte – das war unmöglich, denn sie konnten gar nicht über die nötigen Truppen verfügen. Sie hätten niemals genügend Krieger ausbilden, sammeln und manövrieren können, um mehr als zwanzigtausend hervorragend ausgerüstete und gut trainierte Soldaten zu bezwingen. Es sei denn, Lucius Asprenas’ Befürchtungen hätten sich bewahrheitet, und es gab tatsächlich eine groß angelegte Verschwörung.
Anstelle eines Mantels legte Cinna sich die Decke um und verließ das Haus. Am Brunnen kniete Rieses Tochter Sunja und wusch ihrer unwilligen kleinen Schwester das Gesicht. Ihr Hemd umflatterte sie lose, ein dicker blonder Zopf fiel über ihren Rücken, und ihre bloßen Arme schimmerten im Morgenlicht. Das Kind machte sie auf ihn aufmerksam, und während Saldir ihn musterte, erhob Sunja sich und wies einladend auf den Kübel auf dem Brunnenrand.
»Du bist ein Frühaufsteher«, neckte sie ihn, ehe sie die Hand ihrer Schwester nahm und sich anschickte, zum Haus zurückzugehen.
Er wollte sie zurückhalten, doch sein Griff ging ins Leere. »Was ist mit den Toten? Habt ihr sie bestattet?«
Sie stutzte; dann tippte sie sich mit dem Finger an die Stirn. »Tote Römer? Bestattet ihr die Leichen besiegter Feinde?«
Zögernd zog er die Hand unter die Decke zurück; seine Mundwinkel zuckten nervös.
»Ihre Geister verfolgen dich und rauben dir den Schlaf, nicht wahr?«, meinte Sunja kalt. »Auch uns haben deine Leute ständig den Schlaf geraubt, in uns die Angst geweckt, dass sie eines Tages kommen würden, um uns zu misshandeln, zu verschleppen, zu töten, unser Eigentum zu rauben, unsere Burgen
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