Der Tribun
nacheinander alle Söhne geraubt hatte. Cinna grub die Zähne in die Unterlippe. Besser war es, wenn sein Vater in dem Glauben lebte, der letzte Spross seiner adligen Familie sei ehrenhaft gefallen.
In der vergangenen Nacht hatte sich Saldirs Zustand zu einem kritischen Punkt gesteigert; das Mädchen hatte keine Luft mehr bekommen, hatte gejammert und sich verzweifelt gemüht, die verstopften Atemwege durch Räuspern und Husten zu befreien. Jetzt, nach einem Tag der Ruhe, lag sie still in den Kissen und schien zu dösen.
Cinna kam in den Sinn, dass auch Sunja hier geschlafen hatte, neben ihrer kleinen Schwester, dass die Mädchen einander gewärmt hatten, leise miteinander gealbert und getuschelt hatten und ihrer beider unterdrücktes Kichern bis zu ihm gedrungen war.
Auf einmal flogen die Lider des Kindes auf. »Warum hast du das getan?«
»Was meinst du?«
Ihre Augen bohrten sich in seine, graue Sterne unter dem dunklen Strahlenkranz der Wimpern, um wieder zu erlöschen. Sie wies in den Schatten der Dachschräge, dort wo ihr Spielzeug aufgereiht war, einige wenige Puppen und hölzerne Tiere. Ihr zunächst saß die bräunliche Puppe mit Haar aus gerecheltem Flachs, die sie in jener Sturmnacht gesucht hatte. Sie streckte den Arm nach dem Spielzeug aus, konnte es jedoch nicht erreichen. Cinna langte danach und reichte es ihr.
»Dass du mich da draußen nicht allein gelassen hast.« Sie drückte die Puppe an ihre Brust. Wieder leuchtete ein Blick auf. »Ich wollte, du wärst mein Bruder.«
Behutsam strich er eine Strähne aus ihrer Stirn und spürte, wie sich ihre Wange leicht hineinschmiegte.
»Unsinn, Kleines. Ich bin nicht dein Bruder – ich kann es gar nicht sein.«
»Warum nicht? Du hast deine Familie verloren.« Sie setzte die Puppe vor sich, um sie zu betrachten, und zupfte Kleidung und Haare zurecht, wie es ihre Mutter bisweilen bei ihr tat. Dann sah sie wieder zu ihm auf. »Vielleicht wirst du eines Tages sogar zu ihnen zurückkehren, aber bis dahin kannst du mir ein Bruder sein.«
»Saldir, ich bin nicht der Sohn –«
»Das meine ich gar nicht«, unterbrach sie ihn. »Ich möchte nur, dass du mir ein Bruder bist.«
Cinna seufzte. »Du hast drei Brüder. Drei Brüder, die dich lieben.«
»Inguiomers mag keine Mädchen«, klagte sie. »Hraban kümmert sich nicht um mich. Und Liuba … Liuba liebte Nanthis, und all seine Liebe starb mit ihr. Sein Herz ist verdorrt.« Stirnrunzelnd umschlang sie die Puppe. »Er kann nicht lieben – nichts und niemanden.«
Sie richtete sich ein wenig auf, legte die Puppe neben sich auf das Bett, dort wo Sunja früher geschlafen hatte, und strich das grobe Kleidchen glatt.
Unversehens flogen ihre Arme um ihn, warm lag ihr Kopf an seiner Schulter. »Du bist doch längst wie ein Bruder für mich. Nur ein Bruder hätte das getan.«
Er wollte sie sanft von sich schieben, doch sie grub ihre Hände in sein Hemd und umklammerte ihn nur noch fester. Ratlos ließ er diesen ungestümen Ausdruck der Zuneigung über sich ergehen, voller Sorge, was geschehen mochte, wenn irgendjemand gerade jetzt das Haus betreten würde.
Wieder schaute sie ihn an. »Und Hraban denkt dasselbe. Ich sehe es in seinen Augen.«
»Warum tust du das?«
»Weil du es brauchst.« Ohne den Blick von ihm zu wenden, lehnte sie sich langsam in die Kissen zurück. »Niemand kann allein leben.«
*
Einige Tage lang sah sich Saldir umhegt und gepflegt wie wohl selten zuvor in ihrem Leben. Cinna brachte allen Göttern, die er um Hilfe für sie angerufen hatte, kleine, heimliche Dankopfer dar, wobei er trotz der misslichen Umstände bemüht war, die vorgeschriebenen Formen einzuhalten, soweit er sich daran erinnerte.
Warm verpackt in mehrere Schichten von Röcken und Hemden und zusätzlich in eine Decke gewickelt, genoss sie die ersten Sonnentage des Vorfrühlings auf der Bank vor dem Garten; zeitweilig entbunden von allen Verpflichtungen, versank sie über den abgegriffenen Wachstafeln in ihren Träumereien von rechten Winkeln, Kreisen und Dreiecken, neben denen die Übungsgefechte offenbar keine Bedeutung hatten außer der, sich in der Nähe ihres Lehrers aufhalten zu können.
Godareths’ Frau humpelte hastig den Weg zu Inguiotars Anwesen hinauf und ruderte mit den Armen. Wehklagend fiel sie vor Thauris zu Boden, drückte das Gesicht in den Staub und jammerte, bis die Herrin ihr mit einem knappen Ruf Einhalt gebot.
Cinnas Hände waren von dem weichen Pferderücken herabgeglitten. Alles, was er
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