Der Triumph der Heilerin.indd
diesem jeder vernünftige Gedanke abhandenkam.
Louis hatte recht. Levaux war unter anderem auch Stiefelknecht, und er schlief direkt gegenüber der Schlafzimmertür seines Herrn. Niemand kam oder ging, ohne dass er davon wusste. Und tagsüber war das Zimmer abgeschlossen, mit einem Schlüssel, den er persönlich bei sich trug.
Dies alles war höchst verwirrend. Der Tag hatte ganz normal begonnen.
Nach der Messe und einem Mahl am späten Vormittag war der König in seinen Lieblingsstiefeln zur Jagd geritten. Sie waren ihm wie gewöhnlich von Levaux angezogen worden. Der Kammerdiener hätte schwören können, dass die Stiefel in tadellosem Zustand gewesen waren, aber wenn der König recht hatte, wer hätte einen Anschlag auf ihn verüben können? Wann hätte das passiert sein sollen?
»Winter ist eine schwierigeJahreszeit, Euer Majestät. Könnte es vielleicht eine Unpässlichkeit der Beine sein oder ein Fieber, das die Körpersäfte befallen und die Schwellung verursacht hat?«
»Woher soll ich das wissen? Bin ich ein Arzt?«
Ein Arzt. Ja! Das war der Ausweg aus dem Schlamassel. Jemand, dem man die Schuld geben konnte. So dachte Alaunce, der auf dem Steinboden vor den übel riechenden, geschwollenen Füßen des Königs kauerte. »Soll ich den Leibarzt Euer Majestät rufen lassen?«
Entsetzen packte Louis de Valois. Einen Arzt? »Nein! Das wäre mein sicherer Tod! Diese Ärzte mit ihrem Schröpfen, den Tränken und Drogen kommen mir nicht in die Nähe! Ich kenne sie. Völlig gesunde Menschen werden krank und sterben. Nicht mit mir! O nein, nicht mit mir! Ich will einen Kräuterheiler. Einen fähigen Mann, der nicht zu meinem Hofstaat gehört. Suche mir einen solchen, aber sage keiner Seele etwas davon. Ich will nicht, dass die Leute sich erzählen, der König sei vergiftet worden. Das wäre für Frankreich eine Katastrophe. Geh jetzt!«
»Sehr wohl, Euer Majestät! Sofort!«
Sich wie eine Eidechse oder eine Schlange auf dem Bauch schlängelnd, machte sich Alaunce Levaux auf den Rückzug, vor Erleichterung tropfte ihm fast der Speichel aus dem Mund.
»Halt!« Der Kammerdiener erstarrte. Er hatte zu früh gehofft. Sein Herz füllte mit einem Mal seinen ganzen Brustkorb aus, es pumpte seine Beine voll Blut, damit er weglaufen konnte, wenn es vonnöten war.
»Verriegele diese Tür, wenn du gehst. Niemand, hörst du, niemand darf herein, bevor du nicht zurück bist. Spute dich! Meine Beine brennen vor Schmerzen!«
Der König stöhnte, als er das sagte, und Levaux wagte nicht zu antworten. Er wollte nicht riskieren, sich beim Sprechen vor Angst in die Hosen zu machen. Vor der Tür angelangt, rappelte er sich auf und klopfte sich den Staub von seinem blauen Wams. Er schärfte den Wachen ein, allen den Zutritt zu verweigern, und verriegelte dann eigenhändig die Tür - sämtliche Zimmer im königlichen Wohnflügel konnten von innen wie von außen verriegelt und abgeschlossen werden. Dann machte er sich eilig auf den Weg.
Er wusste von einem Mann, der genau den Wünschen des Königs entsprach: ein Dominikanermönch, der sich in der Stadt Paris um die Ärmsten der Armen kümmerte und ihre Krankheiten ausschließlich mit Heilkräutern behandelte. Er galt als ein Heiliger, zudem als ein Mann, dem Geld nichts bedeutete. Er war englischer Herkunft und hatte einen seltsamen griechi-schen Namen, Bruder Agonistes oder so ähnlich. Ja. Vielleicht wusste der Mönch, ob die Stiefel vergiftet worden waren oder ob etwas anderes die Körpersäfte des Königs in Unruhe brachte. Bitte, lieber Gott, mach, dass der Mönch einen Rat weiß, denn was würde passieren, wenn der König diesem neuen Gebrechen erläge? Was würde mit Frankreich geschehen? Louis wurde von seinem Volk nicht geliebt, aber er war mächtig - und gefürchtet. Wenn er stürbe, würde das ganze Königreich in Aufruhr geraten, ganz Europa. Levaux zitterte. Eigentlich interessierte Politik ihn nicht sonderlich, aber das Gerede im Schloss verfolgte er aufmerksam. Und das sagte, dass die finanziellen Mittel Frankreichs bald erschöpft seien, weil Louis den englischen Grafen Warwick unterstützte. Die Leute redeten auch, dass der Herzog von Burgund unerbittlich sei und jederzeit in Frankreich einmarschieren könne, wenn er seine Interessen in den Niederlanden nicht durchsetzte.
Alaunce Levaux spürte ein nervöses Prickeln im Rücken, als er durch den belebten Palast eilte, wo überall emsig die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest getroffen wurden. Bitte, lieber
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