Der Tschernobyl Virus
Unterlagen zu. Koch kannte diese Sorte Karrieremenschen. Abi in Rekordzeit, keine Parties, kein Spaß in der Schule. Nur am Lernen, keine Freunde. Dann ab auf die Uni und dort bis in die Nacht in der Bibliothek abhängen und lesen. Wahrscheinlich hatte Heip seine Freundin, insofern er eine hatte, auch dort kennen gelernt. Koch stellte sich vor, wie Heip um die Kanzlerin schleimte und immer höher stieg auf der Leiter, während weitaus qualifiziertere Leute blockiert wurden, weil sie Ecken und Kanten hatten.
Karg deutete auf den Platz gegenüber Dr. Chudy. Dort saß ein guter Freund von Koch, »Dr. Oliver Kempe muss ich dir nicht vorstellen, oder?«
Koch lachte, »Nein, das musst du wirklich nicht«, Kempe war wie Koch auch Virologe und Spezialist für neue Krankheitserreger, »Hallo Olly, ich hatte gehofft, dich hier auch zu treffen.«
»Gemeinsam kriegen wir den Burschen«, Kempe hatte eine optimistische Art an sich, die Andere immer in den Bann zog. Auch, als der Ausbruch von SARS gerade begonnen hatte und Schlimmstes befürchtet werden musste, war Kempe immer der ruhende Pol und war sich immer sicher, den Virus in den Griff zu bekommen.
»Und last but not least«, Karg deutete auf eine recht unscheinbare, junge Frau, die unsicher aufblickte, »Frau Prof. Dr. Ming Shu. Lass dich nicht von ihrem hervorragenden, jungen Aussehen täuschen. Sie ist knallhart, eine knallharte Analytikerin, um genau zu sein. Sie ist DIE Spezialistin, wenn es darum geht, irgendwo Zusammenhänge zu finden.«
Beeindruckt nickte Koch ihr zu. Sie lächelte verlegen zurück. Marc Koch fragte sich, wie so ein zartes, schüchternes Wesen angeblich so hart sein soll.
Jetzt nahmen Karg und er an der Stirnseite des ovalen Konferenztisches Platz.
»So, jetzt, wo wir vollständig sind«, Karg ließ sich geräuschvoll in den Sessel sinken, »können wir endlich richtig loslegen«, er drehte sich zu Koch, »wir waren gerade dabei, die aufgetretenen Fälle zu analysieren.«
»Wie viele gibt es denn?«
»Bei dir in Frankfurt zwölf bisher«, Karg lehnte sich vor und schaute auf seine Unterlagen, »hier in Berlin sechs, im Ruhrgebiet bisher neun. Alle innerhalb von drei Tagen.« Koch hob die Augenbrauen.
»Wie hoch ist die Sterblichkeit?«, fragte Koch.
Die ersten Zahlen deuten auf etwa achtzig Prozent hin«, sagte Karg und fuhr sich durch sein dichtes blondes Haar. »Anscheinend greift der Virus die Jungen und Gesunden am meisten an.«
Karg wandte sich an Chudy. »Marie, kannst du uns ein paar Hintergrundinformationen geben, was die mikrobiologische Seite betrifft?«
Marie kramte in ihren Notizen. Obwohl sie nicht ablas, hielt sie den Blick auf die Seiten gerichtet, während sie sprach. »Wir haben die Blutproben noch nicht einmal seit drei Tagen, doch bisher war die Abgleichung der Bakterien- und Virenkulturen negativ. Wir fuhren die üblichen phanotypischen und molekularen Virendiagnosen durch. Wir haben eine Polymerase-Kettenreaktion im Hinblick auf alle nahe liegenden Virenfamilien durchgeführt, doch die PCR hat uns…«, sie zögerte kurz, »bisher keine eindeutigen Ergebnisse gebracht.«
Koch ging auf ihr Zögern ein. »Was ist, Marie?«
Marie sah von ihren Papieren hoch und fing Kochs Blick auf. »Das ist noch nicht wissenschaftlich abgesichert. Überhaupt nicht. Aber einige der RNA-Proben haben eine schwach positive Reaktion auf Grippe gezeigt.«
»Es handelt sich also wirklich um irgendeine Grippeart?«
»Das können wir noch nicht bestätigen«, sagte Dr. Marie Chudy und sah wieder auf ihre Notizen. »Wir testen nur auf virale DNA und RNA. Die Patienten, von denen die Proben stammen, könnten sich auch vor zehn Jahren bei einer Grippeepidemie angesteckt haben, sodass wir jetzt die Überreste der toten Viren in ihrem Blut finden.«
»Kein Kausalzusammenhang«, Koch nickte. »Ich verstehe. Aber nur mal aus dem Bauch heraus, was meinen sie, Marie? Ist das eine neue Grippeart?«
»Nein«, sagte sie, doch ihre Stimme klang nicht fest. »Ich bin natürlich nicht sicher, aber es sieht eher so aus, als ob dieses Virus bei einem Test einfach nur ähnlich wie ein Grippevirus reagiert.«
»Die ungefähre Richtung stimmt, aber es ist kein echter Treffer, hm?«, sagte Koch.
Marie nickte begeistert. »Genau das wäre auch meine Hypothese. Das ist keine bekannte A- oder B-Grippe, aber ein eng verwandtes Virus. Wahrscheinlich eins, das wir noch nie gesehen haben.«
»Ich hatte etwas läuten hören von einem neuen Virus aus Mexiko«,
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