Der Tschernobyl Virus
Alternative.«
»Basti wollte uns gerade erklären, warum die regenerativen Energien nichts sind.« Koch zeigte mit seinem sarkastischen Tonfall, wie viel oder besser wenig er von Heips Einstellungen hielt.
»Regenerative Energien sind die Zukunft, versteht mich nicht falsch«, Heip wedelte mit seinen Händen, um zu zeigen, dass er ganz anderer Meinung war, »aber wie ich sagte. Die Zukunft, nicht die Gegenwart.«
»Was willst du damit sagen?« Koch verstand nicht.
»Was er sagen will«, Lehman setzte sich jetzt auch, »ist, dass die regenerative Energien nicht genug Strom liefern, um die Atomkraft zu ersetzen.«
»Nicht sofort«, Koch schüttelte den Kopf, »das ist mir schon klar. In 2007 haben die deutschen Atomkraftwerke etwas über 130 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugt. Das sind etwas über zwanzig Prozent des Bedarfs. Deutschland hatte im Jahr 2007 einen Exportüberschuss von knapp zwanzig Milliarden Kilowattstunden. Also bräuchten wir noch etwa 115 Milliarden Kilowattstunden, wenn wir aus der Atomkraft aussteigen wollen und nicht zum Stromimporteur werden wollen. Bis dahin alles klar?«
»Was du nicht alles weißt«, Marie sah ihn anerkennend an.
»Danke, aber es kommt noch besser«, Koch war jetzt in seinem Element und er fühlte sich im Vorteil, »Der Verband der Netzbetreiber rechnet mit einem jährlichen Ausbau der Ökostromerzeugung von acht Milliarden Kilowattstunden. Das ist übrigens das gleiche Tempo, dass seit dem Jahr 2000 erzielt wird. Rechnet man das auf 15 Jahre hoch, ergibt das bis 2022, wenn die Kernkraftwerke abgeschaltet werden sollen genau einhundertzwanzig Milliarden Kilowattstunden. Also fünf Milliarden mehr als wir bräuchten.«
Lehman nickte und Heip applaudierte, »Das war sehr gut, Marc«, Heip stand auf, ging auch zur Thermoskanne und schenkte drei Tassen Kaffee ein. Zwei Tassen brachte er Koch und Marie, dann ging er zurück und holte sich seine Tasse, »Du hast relativ gut recherchiert. Nur einige Hintergründe hast du nicht beachtet.«
»Und die wären?« Koch wirkte beleidigt.
»Du hast vergessen, dass die regenerativen Energiequellen nicht immer zur Verfügung stehen. Dass Solarenergie gerade dann nicht zur Verfügung steht, wenn die Leute Licht einschalten wollen, zum Beispiel. Habt ihr schon mal etwas von der Strombörse gehört?« Heip nahm einen tiefen Schluck.
»Dort wird der Strom gehandelt, oder?« Marie war von allen die ruhigste, die nachdenklichste.
»Es gibt dort den sogenannten Intraday-Handel, wo rund um die Uhr sofort verfügbarer Strom angeboten und nachgefragt wird. Für all diese verschiedenen Stromsorten gibt es ganz unterschiedliche Preise. Die Streuung liegt im Regelfall zwischen einem und etwa zwanzig Cent für jede Kilowattstunde. Wenn an einem, sagen wir mal, Mittwoch um sieben Uhr morgens Windstille herrscht, ist der Preis beim Intraday-Handel extrem hoch, denn ein kleines Stromangebot steht dann einer hohen Nachfrage gegenüber. Die Leute sind gerade aufgestanden, schalten Licht ein. Sie machen ihren Kaffee oder schauen ein wenig Fernsehen, während sie sich für die Arbeit bereitmachen. Und wenn am Sonntagmorgen, während alle Leute schlafen, eine steife Brise weht, wissen die Netzgesellschaften manchmal nicht, wohin mit dem Windstrom. Dann müssen sie ihn anbieten wie…na ja…wie ein Bäcker die Brötchen vom Vortag. Verkaufen müssen sie ihn, denn sie sind verpflichtet, den von anderen Anbietern erzeugten Windstrom abzunehmen, und müssen daher ihre eigenen Kraftwerke abschalten. Das geht manchmal nicht schnell genug, und dann entstehen Stromüberschüsse. Da die Stromgesellschaften den erworbenen Windstrom weder lagern noch vernichten können, müssen sie irgendwo in Europa Abnehmer für ihn finden. Man kann ja nicht einfach das Elbwasser damit erhitzen. In Norddeutschland, wo besonders viele Windanlagen stehen, kommt es gelegentlich vor, dass die Preise an dieser Börse für einzelne Stunden des Tages negativ werden, weil keiner den Strom, den die Windkraftanlagen zu dieser Zeit produzieren, haben will. Die deutschen Netzbetreiber verschenken den Strom dann also nicht nur, sondern sie bezahlen den ausländischen Abnehmern noch Geld dafür, dass sie ihn nehmen. Die enorme Schwankung bei der Wind- und Sonnenstromerzeugung ist übrigens einer der Gründe, warum Deutschland recht viel Strom in andere Länder exportiert. Wir exportieren also nicht Strom, weil wir so wenig verbrauchen, sondern nur weil, wir gerade dann viel Strom
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