Der Tschernobyl Virus
einiges mehr verfallen, als die Lobby im Hotel. Das Treppengeländer war zum Teil abgerissen und lag auf den Treppenstufen, von denen einige bedrohlich wirkende Löcher hatten. Anastasia zeigte auf die Treppe, die nach unten führte, »Kommt mit.«
Im Schein der starken Lampe gingen die fünf vorsichtig die Treppe hinunter und kamen in einen sehr großen Raum. Durch das wenige Licht in dem Raum konnte man nur Umrisse sehen. Es war eine absolute Stille. Nur das Atmen der Gruppenmitglieder war zu hören. Die ganze Szene wirkte beängstigend, bedrohlich. Heip leuchtete auf die Umrisse und eine Unmenge von Schildern, zum Teil zwei bis drei Meter groß, viele an langen Holzstangen kamen zum Vorschein. Sie waren im ganzen Raum verteilt. Einige lehnten an der Wand, andere lagen irgendwo auf dem Boden. Die meisten waren sehr ramponiert, zerbrochen oder hatten zumindest große Risse. Aber bei allen waren die Bilder schon ziemlich verblasst. Auf den meisten Schildern waren Köpfe abgebildet.
»Was ist das?« Sam zeigte auf die Schilder?
»Das sind Lenin, Marx, Gorbatschow«, Heip zeigte auf einige, dann zeigte er auf andere Schilder mit kyrillischer Aufschrift, »die kann ich aber nicht entziffern. Das ist dann dein Job, Anastasia.«
Sie zuckte mit den Schultern und ihre Stimme klang eher gelangweilt, »Ist nur Propaganda. Da stehen solche Dinge wie Lenins Partei führt den Sozialismus zum Sieg und lauter so Zeug.«
»Aber was sollen die denn hier?« Joanne wirkte verwirrt.
»Es wäre eher verwunderlich, wenn die hier nicht wären«, Anastasia macht eine Kreisbewegung durch den Raum, »hier in Prypjat existiert die alte Sowjetunion weiter. Als Gorbatschow für den Umschwung sorgte, war hier keiner mehr. Und so blieb hier alles so, wie es zu Sowjetzeiten war. Und da war der erste Mai ein sehr großer Feiertag. Die Plakate waren schon für die große Parade zum Feiertag gedacht. Jetzt liegen sie hier unten herum und gammeln vor sich hin.«
»So wie die ganze Stadt«, Sams Bemerkung sorgte für eine beklemmende Stille. Alle sahen sich mit nachdenklichen Gesichtern an. Plötzlich wieder ein Geräusch. Doch diesmal war es kein Knacken, es war eine Tür, die zugefallen war. Vor Schreck hatte Heip die Lampe fallen lassen, und von der einen auf die andere Sekunde war es wieder dunkel.
Kapitel 28
»Diese Stadt ist schrecklich«, Marie sah sich auf dem Platz um. Dort, wo noch Straßenbelag zu erkennen war, konnte sie weiße Markierungsstreifen sehen. Doch der Großteil dieses Platzes war aufgesprungen und das Gras wuchs zwischen den Pflastersteinen. An einigen Stellen hatten sich inzwischen richtige Büsche gebildet und Mitten auf dem Platz standen vier Bäume, die sich ihren Weg durch den Straßenbelag erkämpft hatten, »Was ist das für ein Platz hier?«
Kempe sah auf den Stadtplan, den er sich so zurecht gefaltet hatte, dass genau der Abschnitt zu sehen war, wo sie sich gerade befanden, »Es scheint so, als ob das der alte Busbahnhof ist«, er sah sich um, »dort, das Haus ist wohl so was wie der Terminal gewesen, Ticketverkauf und Wartehalle.«
Marie ging zu dem Haus und sah hinein, »Das musst du dir ansehen«, sie winkte Kempe zu sich, »hier stehen noch die Sitzbänke herum.«
Kempe stieß einen genervten Laut aus. Marie zeigte viel mehr Interesse für die leeren und zerfallenden Gebäude, als er selbst. Er wollte hier die Ursache für die Epidemie finden, doch durch Maries ständiges Besichtigen kam er sich mehr wie ein Tourist vor. Er ging zu ihr und sah in die Wartehalle. Es kam ihm komisch vor, an einem Fenster zu stehen und in einen Raum rein zu sehen, wenn dieses Fenster keine Glasscheibe hatte, also sozusagen offen stand. Marie schien Gedanken lesen zu können, denn genau in diesem Moment stieg sie mit einem großen Schritt durch das bis fast zum Boden reichende Fenster in die Wartehalle. Kempe blieb außen vor stehen. Marie ging durch die Stuhlreihen und sah sich fasziniert um. Ihr kam dieser Schritt durch das Fenster wie eine Zeitreise vor. Jetzt war sie plötzlich in der Sowjetunion. An der Wand hing groß eine Sowjetfahne, angefressen vom Zahn der Zeit, dennoch mächtig. Unter einem Sitz fand sie eine Prawda Zeitung. Die hat irgendeiner der Wartenden liegengelassen vor dreiundzwanzig Jahren. Sie blieb vor dieser Zeitung stehen, und sie musste daran denken, dass hier in dieser Stadt einmal Menschen lebten; dass dieser Raum einmal eine belebte Wartehalle gewesen sein mag. Sie dachte an all die
Weitere Kostenlose Bücher