Der Turm der Seelen
in der Kirche, um sich zu sammeln, doch auch dafür war keine Zeit gewesen.
«Allerdings ist es hier auch sonst oft genug dermaßen kalt, dass man sich vorkommt wie in einem Leichenschauhaus.» Gerard Stock verschränkte die Arme vor der Brust. «Und Dunkelheit selbst ruft ja auch das Gefühl von Kälte hervor, stimmt’s? Im Wohnzimmer drüben ist es genauso. Dort haben sie früher den getrockneten Hopfen verpackt, in Säcken.»
«Hopfenziechen», sagte Merrily.
«Oh, Sie kennen sich mit Hopfen aus?»
«Ein bisschen.»
«Stewart war völlig versessen auf Sagen und Legenden um den Hopfen. Nicht, dass es da unheimlich viel gäbe. Wie kann man von etwas so besessen sein, das nichts weiter ist als … eine Zutat beim Bierbrauen … eine Rankpflanze ohne große Besonderheiten?»
«Gab es hinter der Darre ein Hopfenfeld?»
«Gab es. Aber das hat sich die Welke geholt.»
«Passiert das immer noch?»
«Ich glaube, inzwischen gibt es resistente Hopfensorten.»
«Sie haben gesagt, dass Sie Lichter auf dem Hopfenfeld gesehen haben.»
«Meine Frau. Meine Frau hat sie gesehen. Ich nicht. Das war die erste merkwürdige Sache, die hier passiert ist. Es war kurz nach unserem Einzug. Im Winter. Es wurde gerade Abend. Wir hatten ein paar Holzscheite für den Ofen hereingeholt, und sie stand an der Tür und hat den Hügel hinunter in Richtung des Hopfenfeldes geschaut. Und da hat sie dieses Licht gesehen. Es hat sich bewegt. Aber nicht wie eine Fackel – es war mehr ein Schimmern. Es ist zwischen den Hopfengestellen herumgetanzt – an einer Stelle verschwunden und an einer anderen wiederaufgetaucht – und zwar schneller, als ein Mensch sich bewegen könnte. Meine Frau bekam allerdings keine Angst. Sie sagte, es hätte sehr schön ausgesehen.»
«Hat sie das Licht nur dieses eine Mal gesehen?»
«Nein. Ich glaube nicht. Nach einer Weile haben wir nicht … Das hört sich vielleicht unwahrscheinlich an, aber wir haben aufgehört, über diese Lichter zu sprechen. Ich glaube, als im Haus viel erschreckendere Dinge geschehen sind, sind uns rätselhafte Lichter draußen auf dem Hopfenfeld vergleichsweise unwichtig geworden.»
«Hopfen», sagte Merrily. «Als Sie gesagt haben, Stewart sei vom Hopfen besessen gewesen, da meinten Sie sein Interesse für die Geschichte des Hopfens, oder?»
«Ja, das auch natürlich. Aber auch vom Hopfen selbst. Ich will nicht behaupten, dass ich verstanden habe, was er darin sah. Für mich ist das eine chaotische Schlingpflanze mit komischen Schuppenzapfen, die nicht mal besonders schön aussieht. Aber als wir hierherkamen, war überall im Haus Hopfen. An den Wänden und der Decke waren Massen staubiger, vertrockneter, meterlanger Hopfenranken befestigt, und das ganze Haus hat nach Hopfen gestunken. Ich trinke genauso gern ein oder zwei Glas Bier wie jeder andere, aber der andauernde Geruch nach Hopfen … Nein danke. Und wenn man zur Tür reingekommen ist, hat es durch den Luftzug überall angefangen zu rascheln und zu knistern. Es war wie …» Er schüttelte unvermittelt den Kopf.
«Sprechen Sie weiter.»
«Als ob eine Riesenmenge Leute miteinander flüstert. Jedenfalls haben wir die Ranken rausgeschafft. Haben hier drin ohnehin bloß noch mehr Licht geschluckt. Ein paar von den Ranken hingen ja auch über die Fenster. Von den Fenstern im Wohnzimmer hinten hatte man früher einen Blick ins Tal runter.»
Durch das mittlere Fenster der Küche sah Merrily blauen Himmel. Durch die anderen beiden bläuliches Wellblech. Vermutlich war es hier nicht einmal damals so dunkel gewesen, als das Haus noch als Darre gedient hatte.
«Die Scheunen», sagte sie.
Er nickte.
«Das ist schrecklich», sagte Merrily, «aber ich fürchte, es ist nicht …»
«Ihr Problem. Allerdings nicht.»
«Haben Sie mit einem Anwalt gesprochen?»
«Ich habe mit vielen Leuten gesprochen», sagte Stock.
«Hmm … dieses Hopfenaroma.» Merrily atmete langsam durch die Nase ein. «Ich habe beinahe erwartet, dass Sie sagen würden, Sie hätten es wieder gerochen.»
Sie glaubte, sein Blick habe geflackert, doch es war nicht hell genug, um sicher zu sein. Er schüttelte den Kopf. «Nein.»
«Und was ist mit Ihrer Frau?»
Er schwieg. Seine Gesichtszüge schienen sich verhärtet zu haben.
«Ich meine … wie stark fühlt sie sich betroffen? Hat sie die Lichtform auch gesehen?»
«Meine Frau …» Er wandte sich mit leicht gebeugten Schultern ab. «Sie redet nicht gerne darüber. Als die
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