Der Überraschungsmann
hinüber.
»Vilja, oh Vilja, du Waaaaldmägdelein!«, klirrte Leonores Stimme. »Fass mich und lass mich dein Herzliebster sein …«
»Vilja, du SAUFmägdelein«, knödelte Emil gut gelaunt dazwischen. »Bang fleht ein triebkranker MAAAAANNN …«
»Kinder, ihr seid vollkommen verroht, was euren Mu sikgeschmack betrifft. Einer muss die Kultur in diesem Hause ja aufrechterhalten! Barbara versteht davon schließlich nichts!«
Dann frühstückten wir mit Oma Leonore, die den ganzen Tisch unterhielt und gar nicht merkte, dass die Kinder immer schweigsamer wurden.
»Ich weiß einen schönen Kanon, der ist ganz leicht: › FROH zu sein, bedarf es wenig …‹.«
Nathan verließ grußlos den Tisch.
»Ich will Lisa«, hörte ich Pauline in ihren Teddy flüstern.
Mir taten die Füße weh, als ich zum vierten Mal an einem Tag mit erhobenem rotem Schirm vor meiner Gruppe her latschte und mir einen Weg durch die Massen bahnte. »Die Anfänge der Salzburger Festspiele gehen ins neunzehnte Jahrhundert zurück. Das Große Festspielhaus, vor dem wir jetzt stehen, bietet zweitausendeinhundertsiebenundsiebzig Zuschauern Platz. Es wurde von Clemens Holzmeister entworfen. Teile davon ragen in den Felsen des Mönchsbergs hinein. Im Jahr 1917 wurden die Festspiele gegründet. Der Wiener Regisseur Max Reinhard …«
Ich hatte nicht das Gefühl, dass die Leute mir noch aufmerksam zuhörten. Aber auch ich war mit meinen Gedanken ganz woanders, während ich diese Informationen herunterleierte, nämlich bei Volker. Er war so verändert in letzter Zeit. Mein armer Mann. Wie fluchtartig er zu dieser Wandertour mit Felix aufgebrochen war! Natürlich wehrte er sich gegen Lisa und verteidigte den Platz seiner Mutter, die bisher schließlich unentbehrlich gewesen war! Nur weil ich mit Leonore nicht so besonders gut auskam und eher mit Lisa auf einer Wellenlänge war, konnte ich die eine doch nicht einfach gegen die andere austauschen. Da stand plötzlich eine neue Nachbarin samt ihrem Fertighaus auf der Matte, und Leonore wurde von mir und den Kindern eiskalt abserviert. Dazu noch sein anderes Problem: Wiebke! Mit der musste er sich ja auch immer noch rumschlagen. Dauernd bestellte sie ihn ein. Von dem ganzen Stress in seiner Praxis und den vielen Patienten, die ihn mit ihren Sorgen und Wehwehchen belämmerten, mal ganz abgesehen! Wenn er dann nach Hause kam, wollte er MICH , seine Kinder und seine Ruhe. Das alles hatte ich einfach übersehen und seine Bedürfnisse ignoriert. Das war wirklich unsensibel und eigennützig von mir! Ich würde mich ab sofort etwas mehr von Lisa distanzieren und eine normale Nachbarschaft mit ihr pflegen. Nicht mehr und nicht weniger. Nur gut, dass sie jetzt bei ihrem Sven war. Da gehörte sie auch hin.
Nachdem mir diese Erkenntnis gekommen war, fühlte ich mich plötzlich wie von einer Last befreit. »Meine Damen und Herren! Hier vor dem Dom wird der ›Jedermann‹ gespielt! Schauen Sie sich diese Kulisse an! Wer von Ihnen kennt den ›Jedermann‹ ?!« Jetzt war ich endlich wieder ganz bei mir! »Was soll ich Sie mit Jahreszahlen und Namen quälen, wenn wir hier bei 35 Grad im Schatten stehen? Setzen Sie sich mal hier auf die Holzbänke. Ja, stellen Sie sich vor, die Hautevolee aus aller Welt schwitzt sich hier im feinsten Dirndlgewand kaputt, um dieses Spektakel zu sehen. Die Sonne knallt erbarmungslos auf die Schauspieler. Morgen wieder, genau um diese Zeit, wenn die Son ne hinter den Domtürmen untergeht, wird HIER aus dem Dom, auf dieser Treppe« – ich zeigte mit einer dramatischen Geste hinter mich – »der TOD hinunterschreiten. Dieses Jahr ist es Ben Becker im Ganzkörperkondom. Auf der Bühne findet dann eine riesige Party statt. Ein Wildschwein wird angefahren, und fünfzig verrückte Leute mit den abgefahrensten Perücken und Kleidern fressen und saufen um die Wette. Der Jedermann tanzt barfuß mit seiner Buhlschaft, seine alte Mutter ruft noch, er solle in die Kirche gehen und seine Sünden bereuen, aber er denkt gar nicht daran und wirft sie der Länge nach auf den Tisch – die Buhlschaft, nicht die Mutter. Und dann kommt ER . Der Tod. Ganz leise, von hinten, und legt dem Jedermann plötzlich die Hand aufs Herz. Drückt ihm die Luft ab. Um genau zu sein, meine Damen und Herren, handelt es sich um einen waschechten Herzinfarkt. Das will das Stück uns vermitteln: Es kann JEDEN treffen. Ohne Vorwarnung. Mitten im prallen Leben. Gerade den sogenannten Lebemann. Sie kennen bestimmt alle so
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