Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unersättliche Spinnenmann

Der unersättliche Spinnenmann

Titel: Der unersättliche Spinnenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pedro Juan Gutierrez
Vom Netzwerk:
einer Woche zur strahlendsten Indianerin der Anden werden. Wir verabschiedeten uns mit einem Kuss. Sie wirkte fröhlich und entspannt. Sie war jetzt gut drauf und schlug mir vor:
    »Wollen wir zusammen im Hotel zum Abschied Mittag essen? Vielleicht …«
    »Vielleicht was?«
    »Vielleicht kann ich in ein, zwei Monaten wiederkommen.«
    »Sehr schön. Lass uns zusammen Mittag essen.«
    »Um eins? Passt dir das?«
    »Bestens, um eins. In der Lobby.«
    Pünktlich wie die Uhr war ich im Hotel. Sie war nicht zu sehen. Ich setzte mich und wartete eine halbe Stunde. Nach ihrer Zimmernummer konnte ich nicht fragen, weil ich ihren Nachnamen nicht kannte. So wartete ich eine weitere halbe Stunde. Dann stand ich auf und ging. Ich hätte sie zu einer glänzenden Sünderin machen können. Vermutlich hatte sie keinen Abenteuergeist und zog es vor, in die Herde zu ihren Töchtern, ihrem langweiligen Ehemann, ihren Vorlesungen an der Universität, ihren Sonntagsmessen, ihrem komfortablen Haus und dem Rest ihrer Besitztümer zurückzukehren. Heute denke ich, dass sie das Richtige getan hat. Nur ein paar Auserwählte können außerhalb der Herde leben. Und es ist sehr schwierig, sie zu finden.

 
     
     
     
Das nächste Mal
     
     
    Wir waren sieben Akrobaten am Zirkustrapez. Zwei Frauen und fünf Männer. Wir trugen eng anliegende, glänzend rote Artistenanzüge. Wir sahen athletisch und muskulös aus. Unsere Nummer war lang, und wir machten sie in großer Höhe. Es war ein perfekt synchronisierter Mechanismus, und wir waren mental völlig aufeinander eingestellt. Wir mussten uns weder ansehen noch uns etwas zurufen. Alles spielte sich im Kopf ab. Sieben rote Figuren hoch oben im Zirkuszelt. Sieben Menschen, herrlich wie griechische Götter, die zwischen zwei Trapezen hin und her flogen, niemals stillstanden oder zusammenstießen, obwohl sie so positioniert waren, dass ihre Flugbahnen ein Kreuz bildeten. Am Ende jedes Trapezes zeichneten kleine rote Lämpchen eine Leuchtspur. Von ihren Plätzen aus sahen die Zuschauer immer dieses rote Kreuz hoch oben und bestaunten die zwei wunderschönen Frauen und die fünf muskulösen Männer. Alle flogen wie die Vögel und schlugen Saltos in der Luft. Immer fingen ein paar Hände den Fliegenden auf, und eine Sekunde später schoss er wieder davon, wie ein Lichtblitz, hin zu einem anderen Ziel in den Lüften.
    Für uns war es ein perfektes Spiel. Eine Übung in Synchronisation. Das Geheimnis bestand darin, uns völlig zu konzentrieren und alles andere zu vergessen. In einem bestimmten Augenblick des Schauspiels tauchten zwei als Clowns verkleidete Akrobaten aus der Dunkelheit auf und drangen in das starke, weiße Licht der Scheinwerfer ein. Sie flogen völlig unkoordiniert. Eine große Überraschung inmitten all der Harmonie: mit gelb-grün gestreiften Trikots, karottenfarbenen Wuschelhaarperücken und großen, tomatenroten Nasen. Und das Durcheinander begann. Die beiden Clowns hatten anscheinend keine Ahnung vom Trapezfliegen und fielen andauernd ins Leere. Wir fingen sie in letzter Sekunde auf. Sie fuchtelten mit Händen und Füßen in der Luft herum und fielen wieder hinab. Immer mussten wir sie retten. Sie kletterten ein Seil hoch, flohen vor uns, rissen sich los. Es war total elektrisierend. Die Zuschauer schrien auf vor Entsetzen. Das Schauspiel wurde immer hektischer. Wir anderen Akrobaten wurden von den Clowns angesteckt. Jetzt fielen wir schon alle durcheinander. Einer fing uns immer im letzten Moment auf. Wir waren Vögel, die die Gesetze der Schwerkraft besiegten. Die Zuschauer sprangen auf. Das Orchester steigerte die Musik zum Crescendo. Alle zitterten vor Erregung. Die Kinder brüllten. Da kamen zwei Polizisten in die Manege. Drei Pfiffe erklangen. Alles hielt inne. Die Polizisten hatten ein Megafon dabei und befahlen: »Hören Sie sofort mit der Vorstellung auf! Wir wollen keine Toten in der Manege. Wir wollen keine Toten in der Manege. Kommen Sie sofort herunter! Wir wollen kein Blut in der Manege.«
    In diesem Augenblick stürzten sich die beiden Clowns von hoch oben hinab, und niemand konnte sie mehr greifen. Sie waren zwei Torpedos, die mit hoher Geschwindigkeit auf die Mitte der Manege zurasten. Tausende Zuschauer schrien auf vor Entsetzen. Sie entglitten uns, würden gleich auf dem Boden aufschlagen. Sie waren wie zwei brennende, rasend schnelle Pfeile. Ich streckte meine Hand aus, versuchte, einen von ihnen aufzufangen. Nichts. Er entglitt mir. Seit dem Auftauchen der

Weitere Kostenlose Bücher