Der ungeladene Gast
Es ist grauenhaft.« Damit fing Charlotte ernsthaft an zu weinen, mit stoßweisen, hohen Schluchzern, nicht den üblichen, liebreizenderen Äußerungen des Kummers, die sie ihrem Mann gegenüber an den Tag legte. »Meine Schuld. Meine Schuld«, schluchzte sie in ihre tränennassen Hände. »Ich habe euch mit dieser Vorstellung von Dauerhaftigkeit aufgezogen, ich hätte mich damit begnügen sollen, immer auf Wanderschaft zu sein und nie etwas Eigenes zu besitzen, keine Liebe und kein Zuhause.« Ihre Stimme klang jetzt fast hysterisch.
»Mutter, Mutter …«, rief Emerald und tätschelte sie beruhigend, während sie gleichzeitig nach einer Ablenkung suchte, irgendeinem Schimmer, der ihrer Mutter wieder Hoffnung geben würde.
»Und dann«, weinte Charlotte, »dann hatte ich, tief im Inneren meines Herzens, wie dumm, wie dumm, die Hoffnung, dass du und John Buchanan euch verlieben würdet. Er ist so reich!« Das Wort brach rau vor Bedürftigkeit aus ihr hervor. »So reich!«, wiederholte sie mit hoffnungslosem Sehnen. »Generationen und Generationen von uns hätten ausgesorgt gehabt. Ausgesorgt!«, rief sie noch einmal, denn der Ausdruck schien ihr zu gefallen, und schlug dabei mit der Faust, mit der sie ihr zusammengeknülltes Taschentuch umklammerte, in die Handfläche der anderen Hand. »Eine gute, sichere Zukunft hätte vor uns gelegen. Es wäre doch nur eine Ehe …«
Aber hier unterbrach Emerald sie.
»Nur eine Ehe?«, sagte sie ungläubig. »Du hast gut reden, Mutter, du hast zweimal aus Liebe geheiratet. John Buchanan mag zwar sein Auskommen mehr als reichlich verdienen, einfach indem er aussieht wie der aufrechte, redliche, rechtschaffene Bursche, der er zweifellos ist, und gut Freund mit jedem. Aber im nächsten Augenblick erweist er sich als absoluter Tölpel durch und durch. Soll das etwa die Grundlage für fünfzig Jahre Ehe sein? Für Kinder? Für ein Leben?«
Charlotte gab noch nicht auf: »›Absoluter Tölpel durch und durch‹ ist sicherlich ein wenig hart, selbst für dich, Emerald, mit deinen überhöhten Maßstäben. Schließlich hat der Mann es geschafft, einen guten Teil von Manchester aufzukaufen, seit er sich als Geschäftsmann etabliert hat. Und er ist nicht einmal dreißig.«
»Nun, Mutter, das Thema hat sich sowieso erledigt, da er keinerlei Interesse an mir hat. Das hat er mir heute unmissverständlich klargemacht.«
»Es wäre so nett gewesen.«
Emerald sah sie geringschätzig an, erbarmte sich aber sofort wieder; ihre Mutter machte ein Gesicht wie eine Frau, die zusehen muss, wie der allerletzte Zug nach Hause mit ihrem Gepäck an Bord um eine Kurve entschwindet: sehnsüchtig, zunehmend hoffnungslos, verloren.
»Es tut mir leid, Mutter«, sagte sie und meinte es auch. »Wirklich und ehrlich leid. Du hast ja recht. Ich sollte nicht so streng sein. Wenn John Buchanan an mir interessiert wäre, hätte ich vielleicht gelernt, seine guten Eigenschaften zu schätzen. Wie auch immer, ich habe ihn zum Abendessen eingeladen …«
»Wirklich?« Ein kleiner Schauder durchlief Charlottes Körper. Fast konnte man sehen, wie sie sich Zentimeter für Zentimeter straffte. Sie witterte Hoffnung.
Einen Moment zögerte sie, bevor sie mit ausgesuchter, wohldurchdachter Beiläufigkeit sagte: »Es war wirklich sehr großzügig von ihm, seinem Vater die Farm zu kaufen.«
»Ja, das war es.«
Sie wartete erneut, stand dann auf und bemerkte: »Wie ich höre, ist er in der Stadt sehr gefragt, aber nicht sehr an Äußerlichkeiten und den Begleiterscheinungen seines Erfolgs interessiert – Soireen und Bällen und Theaterlogen und dergleichen.«
Es war kein Geheimnis, dass Emerald den genannten hypothetischen Freuden abgeschworen hatte, um ernsthafteren – und realistischeren – Beschäftigungen nachzugehen: Lesen, Gärtnern und noch etwas, woran sie sich im Augenblick nicht erinnern konnte. Was alles sehr armselig klang, verglichen mit den Dingen, die John sich leisten konnte, wenn er wollte.
»Ach ja?«, sagte sie leise.
Charlotte, eine Expertin auf dem Gebiet der Manipulation, wusste genau, wann sie es gut sein lassen musste. »Wie auch immer!«, sagte sie energisch und klopfte mit einem letzten Schniefen ihren Rock ab. »Ich gehe jetzt wohl besser auf mein Zimmer und versuche, zu etwas Würde zurückzufinden.«
»Für mich fehlt es dir nie an Würde, Mutter«, sagte Emerald automatisch.
Sie hatte zwar nie verstanden, wieso ihre Mutter so großen Wert auf Würde legte, wusste aber, dass es so
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