Der ungeladene Gast
das Knirschen laufender Schritte und ein lautes Rufen.
Smudge war als Erste am Fenster.
»Es ist Clovis! Was hat er bloß?«
Emerald raffte ihren Rock und lief gemeinsam mit Smudge zur Tür, wo die beiden in ihrer Hast zusammenprallten. Sie hielten sich jedoch nicht weiter damit auf, sondern rannten auf die Treppe zu.
Auf dem Absatz stießen sie auf ihre Mutter.
»Was ist passiert?«, fragte sie, und sie liefen zu dritt nach unten und erreichten die Halle in dem Moment, in dem die Haustür aufflog.
Außer Atem, das Gesicht totenblass, die Arme weit ausgebreitet, verkündete Clovis: »Es hat einen schrecklichen Unfall gegeben. Ein Zugunglück!«
Die beiden Frauen eilten auf ihn zu, während Smudge zitternd zurückblieb.
»Mein Gott, wo?«, rief Charlotte.
»Auf einer Nebenlinie!« Die Antwort war irgendwie seltsam. Auf einer Nebenlinie? Welcher? Und wo?
»Einer Nebenlinie?«, wiederholte Emerald.
Sie hörten Robert nach Stanley rufen und das gedämpfte, hektische Geräusch von Hufen und Reifen auf Kopfsteinen, das sich von der Rückseite des Hauses näherte.
»Ja«, antwortete Clovis. »Anscheinend ist ein Waggon komplett aus den Schienen gesprungen …«
»Was ist mit Patience?«, wollte Emerald erschrocken wissen.
»Nichts, nichts. Sie ist hier«, sagte Clovis und trat einen Schritt zur Seite.
Und hinter ihm, mit einem angespannten, ängstlichen Gesicht unter einem feschen Strohhut mit blumengeschmückter Krempe, stand die stets adrette Patience Sutton. Überwältigt von Erleichterung und Wiedersehensfreude, umarmte Emerald ihre Freundin.
»Patience! Ist mit dir wirklich alles in Ordnung?«
Patience sah ziemlich mitgenommen aus. »Emerald«, sagte sie. »Ja … es war nicht unser Zug, der entgleist ist, zum Glück, aber – die armen Leute – es ist auf einer Nebenlinie passiert.« Wieder diese Nebenlinie.
»Wo denn genau?« In diesem Augenblick erblickte Emerald auf dem Kies hinter Patience eine hochgewachsene Gestalt, bei der es sich zweifelsfrei nicht um Camilla Sutton handelte. »Und wer um alles in der Welt ist das?«
Patience sah sie verwirrt an.
»Ernest natürlich!«
»Ernest? Aber wo ist deine Mutter?«
»Wir haben ein Telegramm geschickt.«
»Wirklich?«
Charlotte, die in ihrer Selbstvergessenheit nicht daran gedacht hatte, die Nachricht von Camilla Suttons Erkrankung weiterzugeben, warf ein: »Clovis, hat es Tote gegeben?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich weiß nur, dass sie Leute hier bei uns, auf Sterne, unterbringen müssen. Wir sollen den Brougham und das Fuhrwerk schicken. Da ist Robert ja schon …«
»Leute hier bei uns unterbringen?«, rief Charlotte. »Wieso denn das?«
In seiner Hast klang Clovis kurz angebunden. »Weil es ganz hier in der Nähe passiert ist und die Passagiere …«
»Wir haben überhaupt nichts gehört«, wunderte sich Charlotte.
»Nein, Mutter, natürlich nicht. Aber es ist Meilen von jedem Bahnhof entfernt passiert.«
Emerald sah, dass der junge Mann, von dem Patience behauptete, er sei ihr Bruder Ernest, den Emerald als klein und schmächtig und so schreckhaft wie ein Häschen in Erinnerung hatte, seine Jacke ausgezogen hatte, um Stanley zu helfen, Ferryman rückwärts zwischen die Deichselstangen des Fuhrwerks zu manövrieren, damit Robert ihn anschirren konnte.
»Wer hat denn gesagt, wir sollen das Fuhrwerk schicken?«, fragte sie ihren Bruder.
»Und was soll das heißen, sie müssen Leute bei uns unterbringen?«, kam es indigniert von Charlotte.
»Wir haben auf der Straße einen Mann getroffen. Einen Schaffner.«
Er wurde von Patience unterbrochen, die mit klarer Stimme sagte: »Ich denke, es war ein Dienstmann.«
Clovis drehte sich zu ihr um. »Was?«
»Ich denke, es war ein Dienstmann, kein Schaffner«, wiederholte Patience geduldig.
»Es war ein Schaffner«, beharrte Clovis.
»Nein, definitiv ein Dienstmann. Schließlich fuhr er auf einem Fahrrad.«
Clovis warf ihr einen aufgebrachten Blick zu. »Du musst es ja wissen!«
Sie blieb ungerührt. »Doch, doch, es war ganz bestimmt ein Dienstmann, da bin ich mir sicher. Er trug eine Mütze wie ein Dienstmann.«
»Du irrst dich. Aber was immer seine Funktion, er war ziemlich aufgeregt und hat gesagt, es habe einen schrecklichen Unfall gegeben und wir müssten Hilfe schicken.«
»Also kamen wir her«, beendete Patience den Satz und lächelte zu Clovis auf, der sie nicht beachtete und fortfuhr: »Wir sollen Passagiere von Tibbets Cross hierherbringen und dann auf die
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