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Der ungeladene Gast

Der ungeladene Gast

Titel: Der ungeladene Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jones
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verschwunden. Die Zurückbleibenden standen auf der Veranda und sahen ihnen nach. Die Allee dämpfte das Geräusch der Räder, das Klappern der Hufe wurde leiser.
    Sie waren weg.
    Die kleine Gruppe wandte sich dem Haus zu.
    »Mein Gott«, sagte Patience, wieder die Munterkeit in Person, die Wangen rosig. »Was für eine unkonventionelle Ankunft. Was für eine Aufregung. Hallo, Mrs Swift.«
    »Hallo, Patience«, antwortete Charlotte ohne großen Enthusiasmus und mit einem sehr flüchtigen Blick auf Patience, während sie grazil ihre Röcke raffte, um in die Halle zurückzugehen.
    »Und das ist Ernest«, verkündete Patience.
    »Hallo«, sagte der junge Mann, der sich soeben hemdsärmelig und leicht außer Atem zu ihnen gesellte.
    »Ja, richtig …« Charlotte blinzelte kurz in seine Richtung und machte große Augen. Kokett, wie sie ungeachtet ihres nahenden fünfzigsten Geburtstags immer noch war, plusterte sie augenblicklich ihr Gefieder auf. »Mr Sutton, muss ich inzwischen wohl sagen«, gurrte sie. »Oder sogar Doktor Sutton?«
    »Noch nicht, fürchte ich.«
    »Wurdest du am Ort des grässlichen Geschehens nicht gebraucht?«
    »Anscheinend nicht. Ich habe meine Hilfe natürlich angeboten.«
    »Natürlich.«
    Ernest schien nicht zu wissen, wie er diese Bemerkung aufnehmen sollte, und schwieg.
    Inzwischen waren alle wohlbehalten im Haus angelangt. Emerald schloss die Tür.
    »Sie werden frühestens in einer Stunde mit den Überlebenden zurück sein«, sagte sie in dem Versuch, ihre Gedanken zu sammeln.
    »Wie viele Überlebende sie wohl antreffen werden? Und in welcher Verfassung sie wohl sind?«, warf Patience voller Enthusiasmus ein.
    »Hat dieser Eisenbahnangestellte mehr gesagt als nur ›Überlebende‹?«
    »Nichts Hilfreiches«, sagte Clovis. »Alles war ziemlich – hektisch.«
    »Ja, nicht wahr?«, stimmte Patience ihm zu und unterbrach sich dann abrupt. »Ist das etwa die kleine Imogen?«, rief sie herzlich, als sie das Kind zum ersten Mal bemerkte. »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du gerade mal sieben! Und ich weiß noch sehr gut, wie du nur ein Winzling in der Wiege warst.«
    Ihre Stimme fächelte über Smudge hinweg wie die leise schwingenden Perlenfransen eines Kronleuchters. Smudge lächelte zu ihr auf.
    »Dein Kleid gefällt mir«, sagte sie hingerissen.
    Das Kleid war aus primelfarbenem Musselin und hatte eng anliegende Spitzenmanschetten, die die Hände halb bedeckten. Für die neueste orientalische Mode hatte Patience sichtlich nichts übrig.
    »Vielen Dank. Dein Nachthemd gefällt mir auch.«
    Erst in diesem Augenblick bemerkten die Mitglieder der Familie das schmuddelige Nachthemd, das Smudge anhatte, und ihre nackten Füße.
    »Himmel, Smudge«, rief Charlotte, deren Hals sich mit roten Verlegenheitsflecken überzog. »So kannst du doch nicht herumlaufen!«
    »Es ist wegen des schrecklichen Unfalls. Da musste ich doch nach unten kommen.«
    »Das stimmt, Mutter. Sei nicht böse mit ihr«, versuchte Emerald zu beschwichtigen, da sie sah, wie Zorn auf ihr jüngstes Kind in Charlotte aufwallte.
    »Imogen! Sofort nach oben!«
    Patience und Ernest stellten sich taub, während die zerknirschte Smudge den Kopf einzog. Ein unbehagliches Schweigen breitete sich aus.
    All ihre Vorbereitungen waren vergeblich gewesen. Emeralds Geburtstagsfeierlichkeiten hatten in absoluter Unordnung und Verwirrung begonnen. Verzweifelt suchte sie nach etwas Angemessenem, was sie sagen konnte, nach irgendetwas, das ihrer Mutter und ihren Freunden versichern würde, dass die Gebote der Gastlichkeit bald wieder Anwendung finden würden. Gerade wollte sie die Bibliothek und Tee vorschlagen, als sie innehielt, mitten in der Bewegung erstarrt wie bei »Die Reise nach Jerusalem«.
    Sie gehorchte einer Eingebung, einem vielleicht aus früheren Zeiten übrig gebliebenen Instinkt; dem Instinkt, der eine Maus auf ihren kurzsichtigen Wegen innehalten lässt, wenn eine Katze sie vom Stuhl aus beobachtet; der einen vor dem Kamin liegenden Hund plötzlich zittern und winseln lässt, obwohl niemand in der Nähe zu sehen ist.
    Und während sie noch zögerte, traf sie völlig unerwartet ein heftiger Windstoß von hinten, drang durch ihr Kleid, blies alle Gedanken an die Konventionen aus ihrem Kopf. Die schwere Haustür war geschlossen, aber die Kälte traf Emeralds Rücken, hatte ihren Weg durch Pfosten und Scharniere gefunden – durch das solide Holz selbst, so schien es, so wie eine unsichtbare kalte Strömung einen

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