Der ungeladene Gast
ganzes Leben lang Krägen getragen hatte, dachte Emerald, hätte er sich eigentlich inzwischen daran gewöhnen können.) Farmer John Buchanan saß steif zu ihrer Linken, anscheinend gelähmt durch die Verzögerung; er und die stehen gebliebene Uhr schienen viel gemein zu haben, dachte sie. Ihn würde sie auf keinen Fall bitten. Es hätte aussehen können, als böte sie ihm eine Vertraulichkeit an, und sie hatte sich in dieser Hinsicht an diesem Tag schon einmal in die Nesseln gesetzt. Ernest sah sie zwar an, aber unerklärlicherweise war der Gedanke, seinem Blick zu begegnen, ihr unangenehm. Sie konnte nicht einmal in seine Richtung sehen, ohne zutiefst verlegen zu werden, ein unhaltbarer Zustand beim Dinner, wo man absolut verpflichtet war, sich mit seinen Nachbarn zu unterhalten. Sie versuchte, das Wort WEIN mittels gedanklicher Wellen ins Hirn ihres Bruders zu senden, aber es war Traversham-Beechers, der ihre Gedanken las.
»Wie Miss Sutton möchte ich auf keinen Fall den Eindruck der Ungebührlichkeit erwecken«, äußerte er seidenglatt. »Aber fänden Sie es entsetzlich unhöflich von mir zu erwähnen, dass eine Vielzahl von Karaffen bereitsteht, sich aber anscheinend niemand einfindet, die Köstlichkeiten unter die Leute zu bringen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang er geradezu gewichtslos auf – ein faszinierender Anblick – und war wie der Blitz an der Anrichte. Endlich fing Clovis Emeralds Blick auf und reagierte mit einem mimischen »Wieso nicht?«. Und sie fügte sich mit einem aufgebrachten Wimpernschlag in die Situation.
»Gute Idee«, kam es von John, der über all das so verblüfft war, dass er sich bemüßigt fühlte, das Wort zu ergreifen.
Nur Ernest Sutton schien sich angesichts dieses himmelschreienden Fauxpas noch steifer aufzurichten. Stieß sich denn niemand sonst daran?, fragte er sich mit vor Missbilligung gesträubten Nackenhaaren. Es war doch zweifellos Clovis’ Aufgabe, sich um den Wein zu kümmern. Allerdings stand es nicht ihm zu, etwas dazu zu sagen, und so blieb er stumm.
»Was nehmen wir denn am besten?«, murmelte der Gentleman an der Anrichte vor sich hin. »Passend zum ersten Gang? Es riecht nach Suppe. Irgendetwas Fleischiges …« Seine Finger tänzelten über die Flaschen wie über eine heiß geliebte Klaviertastatur, schnippten gegen die silbernen Etikettenanhänger an ihren dünnen Kettchen. »La la la«, summte er. »Sherry!«
Mit einer einzigen fließenden Bewegung ergriff er die Karaffe, zog den Stöpsel heraus und schenkte ein. Dann setzte er sich, hob sein Glas in Richtung Emerald und zwinkerte ihr breit zu.
»Zum Wohlsein, und nochmals herzlichen Dank«, sagte er und leerte das Glas auf einen Zug.
Wo um alles in der Welt bleibt das Essen, und was sollen wir bloß mit all den vielen Leuten im Studierzimmer machen, sobald die geladenen Gäste abgefüttert sind?, fragte sich Emerald und bemühte sich, ein Gastgeberinnenlächeln auf ihre Lippen zu zaubern, die nicht mehr so rosig waren wie vorhin – der größte Teil der vorhin aufgetragenen Farbe war im Verlauf des angespannten, bisher nicht sehr gelungenen Abends von ihr abgeleckt worden.
Oben trippelte Smudge vor Aufregung von einem Fuß auf den anderen, den Blick auf die elegante, hin und her ruckende Kehrseite ihrer Mutter gerichtet, die die Schachtel mit dem Kätzchen unter dem Bett hervorzog.
»So«, sagte Charlotte beim Auftauchen. Der Schuhkarton war mit Schnur zugebunden und mit Löchern versehen. Ein gedämpftes Maunzen drang daraus hervor.
»Tenterhooks«, hauchte Smudge.
»Ich hoffe, es war nicht zu lange in der Schachtel. Lass sehen …« Charlotte reichte Smudge die Schachtel mit ihrem beweglichen Inhalt, ging im Zimmer umher, griff sich hier einen Schal, dort ein Tuch, und ließ sie wieder fallen. »Ich habe weder einen Brief noch eine Karte, aber es ist doch nett, ein Kätzchen geschenkt zu bekommen, und die kleine Bowes war froh, es los zu sein, und – ah!« Sie hatte ein Stück Samt gefunden. »Halt die Schachtel, damit …«, wies sie Smudge mit kalter Stimme an. »Nein! Wie kann man nur so ungeschickt sein – so doch nicht. Nimm die Hand da weg.«
Smudge versuchte, den schnell wechselnden Stimmungen ihrer Mutter zu folgen, und hielt lammfromm die Schachtel. Das Miauen des Kätzchens klang inzwischen herzzerreißend.
»Kann ich es jetzt nach unten bringen? Kann ich?«, bettelte sie. Charlotte küsste sie auf die Stirn.
»Ja, mein Liebes.«
Und Smudge rannte los.
Als sie jetzt
Weitere Kostenlose Bücher