Der Unsichtbare Feind
gelassen hatte. Während sie mit einem Ohr auf das Gespräch in der Ferne horchte und dachte, dass er nicht nach ihr suchen würde, solange er weitersprach, sah sie rasch unter der Couch nach, auf der sie geschlafen hatte.
Nichts.
Sie durchsuchte die Kleider, die sie abgelegt hatte, bevor sie zu Bett gegangen war, mit dem gleichen Ergebnis. Sie schob die Hand in die Taschen ihres Laborkittels, der ihm Schrank hing … sie konnte es nirgends finden.
Ich muss es auf dem Labortisch liegen gelassen haben, dachte sie, und ihr Inneres verkrampfte sich.
Sie zog das Kleid an und schlüpfte in die Schuhe, damit sie weglaufen konnte, wenn sie dazu gezwungen wäre. Ganz vorsichtig, damit ihre Kreppsohlen nicht auf dem Linoleumboden quietschten, ging sie zur Tür. Sie öffnete sie langsam, und da die Stimme lauter wurde, wusste sie sofort, dass sie aus einem benachbarten Raum kam. Die plötzliche akustische Verstärkung ermöglichte es ihr, die Worte selbst besser zu hören – fremd und harsch, und dennoch schrecklich vertraut –, und die letzten Zweifel, ob es dieselbe Sprache wie die der Killer war, verschwanden.
Sie spähte in den Gang hinaus und sah einen dünnen Lichtstreifen, der die Dunkelheit vor Azrhans Büro durchbrach. Die Tür stand ein Stück weit offen, und über die Milchglasscheibe bewegte sich ein Schatten hin und her. Das Gespräch klang jetzt noch erregter – die Person brach mitten im Wort ab, als ob sie unterbrochen worden wäre, dann wurde die kurze Stille mit einer wütenden Tirade beendet, die sie in jeder Sprache der Welt für einen Fluch gehalten hätte.
Ist es nur Azrhan?, fragte sie sich. Zu ihrer Panik kam Verwirrung hinzu, und sie konnte kaum atmen. Sie hatte ihn früher schon Arabisch sprechen hören, aber das hier klang völlig anders. Konnte seine Stimme durch den fremden Dialekt und seine Wut so sehr entstellt werden, dass sie sie kaum wiedererkannte?
Um den Raum zu erreichen, wo sie ihr Handy gelassen hatte, musste sie durch die Tür gehen. Eine Tür war auch zwischen ihr und dem Ausgang zum Flur, wo sich die Aufzüge befanden. Trotz ihrer Angst betrat sie den Gang und schlich vorwärts. Aber als sie sich dem Lichtstreifen näherte, fragte sie sich wieder, ob die Stimme wirklich zu Azrhan gehörte oder nicht. Immerhin habe ich niemanden gehört, der eingebrochen wäre, und so folgerte sie: Also wer immer es auch ist, er muss einen Schlüssel haben. Ob ich erst mal einen Blick riskiere, bevor ich die Polizei rufe, vielleicht grundlos? Denn wenn es Azrhan ist, dann hat er absolut das Recht, sein Büro zu jeder Tages- und Nachtzeit zu benutzen und jede Sprache zu sprechen, die er will. Dennoch ließ die Tatsache, dass er gerade diese bestimmte Sprache benutzte, trotz ihres Bemühens, nicht gleich das Schlimmste zu denken, dunkle Ahnungen in ihr aufkommen, die wie Parasiten an ihren Gedanken nagten.
Sie war bis kurz vor die Tür gekommen, als sie ein besonders vehementes Stück Kauderwelsch hörte, und gleich darauf wurde der Hörer auf die Gabel geknallt.
Oh oh, dachte sie und erstarrte mitten in der Bewegung. Während sie die Augen auf das Milchglas gerichtet hatte, wurde der Schatten auf der Scheibe dunkler.
Er kommt raus!, warnte ihr Verstand, und instinktiv lief sie zurück und suchte Schutz in ihrem Büro. Sie schlug die Tür hinter sich zu, aber sie verklemmte sich, bevor das Schloss einschnappen konnte. Sie drückte dagegen und stieß so kräftig, dass sie laut ins Schloss fiel.
Sullivan stand da, lauschte und wagte nicht zu atmen. Zuerst hörte sie nichts. Dann näherten sich zögerliche Schritte auf dem Gang. »Dr. Sullivan, sind Sie wach?«, erklang Azrhans Stimme.
14
»Ich wollte Sie nicht stören.« Seine Stimme klang angestrengt und mindestens eine halbe Oktave zu hoch.
»Was machen Sie denn hier, mitten in der Nacht?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte er, wippte dabei nervös mit dem Fuß, während er einen Schluck Tee nahm. Er sah elend aus.
»Nur raus damit«, forderte sie ihn auf, und er zuckte zusammen. Sie hatte ihn kein Wort sagen lassen, während sie das Teewasser gekocht, die Kanne vorbereitet und die Schlafcouch zusammengeklappt hatte. Gewohnheit und Routine halfen ihr, das heftige Pochen in ihrer Brust im Zaum zu halten. Erst als sie sich mit den Tassen in der Hand an ihrem Schreibtisch gegenübersaßen, erlaubte sie ihm, eine Erklärung zu geben.
»Okay«, fing er an, und er sank sichtlich in sich zusammen, als ob er sich dem Griff eines
Weitere Kostenlose Bücher