Der Unsichtbare Feind
ihm dennoch ständig durch den Kopf, so lebhaft, wie er sie beim ersten Mal gesehen hatte. Inzwischen aber, da sie Teil seiner Albträume geworden waren, erinnerte er sich so an sie, wie er von ihnen träumte – in Schwarzweiß. Das Video, das dazu gedacht war, die Genialität dessen zu zeigen, was ihre heldenhaften Genetiker an jenem weit entfernten Ort entwickelt hatten, bevor US-Flugzeuge sie und ihr Labor in die Hölle gebombt hatten, dokumentierte die Versuche, die diese so genannten Wissenschaftler durchgeführt und gefilmt hatten.
Vor seinen Augen flackerten Szenen von Männern, Frauen und Kindern, die in ihren eigenen Exkrementen in Gefängniszellen hockten und deren Haut mit dunklen Flecken übersät war, während ihnen aus Mund, Nase und Rektum Blut floss. Einige von ihnen starrten mit zweifelndem Gesichtsausdruck in die Kamera, als ob sie sagen wollten, dass sie noch nicht glauben konnten, dass sie solch ein Elend befallen hatte. Andere stöhnten und krümmten sich auf dem Boden und warfen flüchtige Blicke auf die Kamera. Ihre Augen waren trübe, dunkel und flehend, und sie schienen sich selbst in ihren letzten Stunden noch an die Hoffnung zu klammern, dass irgendjemand sie von ihren Qualen befreien könnte. Noch andere schienen ihren Untergang akzeptiert zu haben, lagen bewegungslos in ihrem Dreck, öffneten von Zeit zu Zeit die Augen und starrten ins Leere. Ihre ausdruckslosen Gesichter hingen kraftlos herunter wie lose Haut.
Bei den am weitesten fortgeschrittenen Fällen signalisierte nur noch ihre angestrengte Atmung, dass sie am Leben waren. Verschreckte Kinder standen neben ihren sterbenden Eltern und schrien ungehemmt, während sie die dünnen Ärmchen ausstreckten und vergeblich um Trost flehten. Eines dieser Kinder, beschmiert mit den dunklen Streifen seines eigenen Kotes und des Kotes seiner Mutter, hörte auf, die Brust der Frau, die nicht mehr reagierte, anzustoßen, und wankte auf die Kamera zu. Während der Junge wimmerte und seine Hände durch das Gitter streckte, damit ihn jemand mitnahm, kommentierte die Stimme des Filmenden kalt: »Die Hauptorgane des Bauchraumes – Leber, Milz und in gewissem Ausmaß die Nieren – verflüssigen sich innerhalb weniger Tage …«
Butkis zog die Maschine wieder einmal durch eine enge Kurve und flog dicht über dem Boden zum Wagon zurück, um nachzutanken. In einer Wolkenlücke erschien kurz der Mond und warf sein schimmerndes Licht auf die nassen, jungen Blätter, die sie gerade besprüht hatten, und verwandelte das ganze Feld in Silber. »Hübsch, nicht?«, kommentierte der Pilot, warf dann den Kopf in den Nacken und sang: »Ohhhhh-klahoma, wo wir Dünger sprühen und der Mais in den Himmel wächst …«
II F RÜHLING
7
Mittwoch, 3. Mai 2000, 14.00 Uhr
In der Umgebung von Kailua.
Kein Lüftchen wehte, doch Kathleen Sullivan sah, dass sich ein weißer Vorhang in dem Fenster im oberen Stockwerk des heruntergekommenen, grauen Farmhauses leicht bewegte. Die Hitze brütete über dem baumlosen Hof, und der ausgedörrte Boden unter ihren Füßen war hart wie Beton. Die wenigen Grasbüschel, die noch übrig waren, hatten sich längst in gelbes Stroh verwandelt. Es gab keine Hunde – sie war eine ganze Minute in ihrem Wagen sitzen geblieben, bevor sie die Tür öffnete, um sicherzugehen, dass sich keiner auf sie stürzen würde. Dennoch blieb sie auf der Hut und ging langsam, während sie nervös am Haus vorbeispähte, wo eine verfallene Scheune und ein mittelgroßer Stall sich aneinander lehnten wie zwei Haufen ausgeblichenes Treibholz.
Da sie nichts sah, wuchs in ihr der Verdacht, dass er überhaupt keine Tiere hatte. Auch konnte sie nirgendwo landwirtschaftliches Gerät wie Traktor oder Pflug entdecken. Vielleicht bearbeitet er das Land nicht mehr, dachte sie und schaute auf die wenigen, kleinen Felder, die sich von einem wackligen Zaun hinter der Scheune bis zum steilen Fuß der Koolau Range in weniger als einer Meile Entfernung erstreckten. Unter einem schäbigen Carport entdeckte sie allerdings einen relativ neuen, roten Pick-up, der in völligem Gegensatz zu dem heruntergekommenen Eindruck des Ortes stand. Dann kam ein leerer, verrosteter Hühnerstall in Sicht, der längs des baufälligen Zaunes stand. Mehr als alles andere zog dieser ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Sie ging weiter bis zu einer verblassten, grünen Eingangstür, spähte durch die schmutzigen Fensterscheiben auf beiden Seiten der Tür hinein und klopfte laut. Durch
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