Der unsichtbare Feind (German Edition)
oder zumindest nichts zu denken. Sie stemmte sich wieder zu
voller Größe und suchte Augenkontakt zu Schönborn.
Tanja verharrte in der
Bewegung. Das Wohnzimmer war leer.
„Dieser Bastard“, dachte
sie, „er hat die erstbeste Möglichkeit ausgenutzt und ist geflohen.“
Wut schäumte in ihr hoch und
ließ sie für einen Moment das Schlachtfeld in der Küche und den grausig
zugerichteten Leichnam ihres Freundes vergessen.
Ihr Blick schweifte durch
den Wohnraum. Keine Spur von Schönborn. Sie betrat das Zimmer, hoffte aus einer
anderen Perspektive vielleicht doch den Biochemiker zusammengekauert und
wimmernd in einer Ecke aufzufinden, doch das blieb ein Wunschtraum. Sie schien
alleine zu sein. Tanja zog ihr Handy aus der Tasche, klappte es auf und starrte
für einen Moment auf das Display.
„Voller Empfang“, flüsterte
sie, ohne aufzublicken.
Als der Ernst der Lage sie
wie ein Hammerschlag wieder einholte, wählte sie Notrufnummer der Polizei. Sie
brauchte drei Versuche, bis sie die 133 fehlerfrei eingetippt hatte. In wenigen
Stunden würde sich Haslauer bei den Beamten melden und jeglichen Mordverdacht
zerstreuen. Dann hätte sie noch immer genug Zeit, um an einem Virustatikum zu
arbeiten.
Als sie den Daumen auf die
grüne Taste legte, spürte sie einen Stich an ihrem Oberkörper. Etwas Scharfes
bohrte sich in die dünne Haut und setzte sich mit Wiederhaken fest. Ehe sie
realisiert hatte, was mit ihr geschah, spürte sie einen stechenden Schmerz in
ihrer Brust, der sich in Wellen in ihrem Körper ausbreitete. Ihre Muskeln
verkrampften, das Handy glitt ihr aus der Hand, über die sie die Kontrolle
verloren hatte, und fiel zu Boden. Verkrampft rollte sie ihre Augen, bis sie
die Quelle des Schmerzes sehen konnte. Mehrere kleine Nadeln mit Wiederhaken
hatten sich durch ihr T-shirt in ihre Haut gebohrt. Von den Nadeln führten
dünne Drähte, die Tanja wegen der beginnenden Ohnmacht beinahe übersehen hätte,
quer durch den Raum. Tanja schöpfte ihre letzten Kraftreserven und blickte an
den Drähten entlang. Sie mündeten in etwas, das wie eine Pistole aussah,
dahinter nahm sie nur noch schemenhaft eine in einen grauen Overall gehüllt
Gestalt wahr, die den Taser langsam senkte. Bevor Tanja auf den Boden
aufprallte, wurde ihr schwarz vor Augen und sie verlor das Bewusstsein.
Kapitel 32
Schwer
atmend kroch Inspektor Stark in das dichte Gebüsch, das sich im Laufe der Jahre
durch den Zaun gewachsen hatte.
Er robbte
an Haslauer vorbei, drückte einige Äste zur Seite und blickte durch den
Maschendrahtzaun auf die rückwärtige Seite des weitläufigen HumanPharm
Geländes. Vor ihm lag vertrocknete Steppe, durchzogen mit vereinzelten
kläglichen Grasbüschen und ledrigem Gestrüpp. Mehrere Hundert Meter hinter dem
stacheldrahtgekrönten Zaun erhob sich das flache weiße Gebäude mit den grün gestrichenen
Toren, wegen dem die Beiden hergekommen waren. Nur wenige Meter vor ihnen auf
dem Firmengelände prangte ein braun lasierter, verwitterter Holzturm. Unter dem
mit Dachpappe beschlagenen Flachdach des Hochsitzes erspähte Stark eine in
schwarzem Kampfanzug gekleidete Wache mit einem Gewehr vor der Brust. Er
deutete mit dem Finger auf den ahnungslosen Mann über ihnen.
Haslauer
zog seine Pistole aus der Tasche: „Sie hat einen Schalldämpfer“, flüsterte er.
„Zu
gefährlich“, erwiderte Stark.
Er deutete
auf ein Kabel, das vom Dach des Hochsitzes bis zum nächsten Gebäude gespannt
war: „Wenn etwas schief geht, löst er Alarm aus.“
Haslauer
nickte einsichtig.
Die
grauenhaften Misshandlungen, die Haslauer wieder und wieder hatte erdulden
müssen, sowie den bevorstehenden Tod an dem sich seine Peiniger ergötzt hatten,
hatten ihn wohl weit mehr abgehärtet, als es dem Mann bewusst war, rätselte der
Inspektor.
Stark
hatte nicht viel Zeit über das Schicksal seines Mitstreiters lange
nachzudenken, er musste sich auf seine Mission konzentrieren, und die Uhr
tickte. Er sog seine Umgebung in sich auf. Dann scherte er einen faustgroßen
Stein aus der Erde und balancierte ihn auf seiner Hand. Unter der Maske floss
sein Grinsen in die Breite. Er fischte aus einer Tasche einen Leatherman
heraus, und klappte die Zange auf. Mit dem angeschlossenen Seitenschneider
durchtrennte er ein Glied des Maschendrahtzaunes nach dem anderen. Dann legte
er das Multifunktionswerkzeug zur Seite und hob vorsichtig das kleine,
ausgeschnittene Fenster vom Zaun ab.
„Warten
Sie hier, Doktor Haslauer“, flüsterte er dem
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