Der unsichtbare Feind (German Edition)
sie das in die
Kanzel eingelassene Männergesicht, das sich aus einem Fenster beugte, mit einem
verächtlichen Blick abstrafte. Erschöpft blieb sie einen Moment stehen und
lauschte dem Pochen ihres Herzens, während sie den Eingangsbereich im Auge
behielt.
Kaum Zeit sich zu erholen,
vernahm sie erneut Geschrei aus dem Bereich des Ticketschalters, die an den
Mauern des Domes widerhallten. Ein Mann fuchtelte wild mit seinen Armen,
während er die Domangestellten, die ihn den Weg in das Innere der Kirche
verwehrten, anbrüllte.
Tanjas Herz schlug wie wild.
Sie kannte den Mann. Hagere Gestalt, schütteres Haar, abgetragener Anzug. Es
war der in zivil gekleidete Polizist, vor dem sie am neuen Markt geflüchtet war.
Langsam tat sie einen Schritt nach dem anderen rückwärts, im Bewusstsein ihre
Deckung aufzugeben, aber was bliebe ihr denn schon anderes übrig? In wenigen
Sekunden würde der Mann mit Verstärkung den Dom durchsuchen.
Unvermittelt trafen sich die
Blicke der Beiden. Die graubraunen Augen des Mannes verengten sich zu
Schlitzen.
Er erhob seine Stimme über
das Geschnatter der Menschen, während er seinen Zeigefinger, als wäre es seine
Dienstwaffe, auf sie richtete: „Doktor Pavlova! Das Gebäude ist umstellt. Vor
jedem Ausgang warten Polizisten. Sie können nicht entkommen!“
Urplötzlich tauchte eine
schwarze Gestalt im Eingangstor auf und verharrte dort. Sein Kopf war wie am
Vortag von einem Hut bedeckt, sein Blick huschte durch den Raum ohne ihren zu
treffen.
Während sich die völlig
entnervte Dombedienstete vor den Polizisten schob, der es noch immer verabsäumt
hatte sich auszuweisen, ergriff Tanja ihre letzte Chance und lief Richtung
Hochaltar. Vor ihr tat sich ein Treppenabgang auf. Ohne darüber nachzudenken,
drängte sie sich durch eine Gruppe Ministranten und stolperte die Treppen hinab
bis zu einer gusseisernen Tür. Mit zittrigen Händen griff sie nach dem Öffner
und drückte ihn nach unten. Eine Welle der Erleichterung ging durch ihren
Körper, als die Tür aufsprang.
Vor ihr lag Schwärze. Dem
Unbehagen zum Trotz, setzte sie vorsichtig einen Fuß in die Finsternis und zog,
nachdem sie noch einmal tief Luft geholt hatte, das andere Bein nach. Hinter
Tanja glitt die massive Tür in das Schloss und erstickte das Geschnatter der
Dombesucher augenblicklich. Tanja atmete feuchtkühle, muffige Luft ein. Wo war
sie? Vorsichtig tastete sie die kalten Steinwände im Türbereich ab, bis sie auf
einen Schalter stieß. Sie kippte ihn zaghaft nach oben. Mehrere Neonröhren
erwachten flackernd zu leben und warfen Schatten an die fensterlosen
Steinwände. Tanja fand sich in der bizarren Welt der Wiener Toten wieder.
Wenig später, als sie ein
Labyrinth aus Urnenräumen, Bischofsgräbern und übereinandergeschlichteter
Pesttoter durchquert hatte, öffnete sie zögerlich eine unscheinbare Tür, die
fernab der großen Tore des Stephansdomes lag. Grelles Tageslicht durchflutete
den schmalen Aufgang, den sie hochgestiegen war. Sie streckte den Kopf zur Tür
heraus und sah sich um. Es war kein Verfolger weit und breit zu sehen. Tanja
fasste sich ein Herz und rannte wie der Teufel, als sie die dicken Mauern des Wiener
Domes hinter sich ließ.
Kapitel 17
Entkräftet sank Tanja auf
einen Barhocker an einem Wurststand nieder. Die Mittagssonne strahlte
erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel. Menschenmassen tummelten sich am
Schwedenplatz. Viele genossen den fabelhaften Ausblick auf den Donaukanal, der
einen Vorgeschmack auf die blauen Wässer des Donaustroms bot. Obwohl ihr ganzer
Körper zitterte, wünschte sie sich nichts sehnlicher als ein paar Minuten
Schlaf. Immer wieder schlossen sich ihre Lieder und sie begann ins Land der
Träume zu gleiten. Aber dann blitzten eins ums andere Mal Bilder der Erlebnisse
der letzten vierundzwanzig Stunden vor ihrem geistigen Auge auf. Ruckartig riss
sie die Augen auf und straffte ihren Körper. Ihr rastloser Blick huschte über
ihre Schulter. Sie hatte ein Geräusch gehört. Oder doch nicht? Vielleicht hatte
sie es auch geträumt. Kein Polizist und kein schwarz gekleideter Mann tauchten
in ihrem Sichtfeld auf. In ihren hellen Augen schimmerte es feucht. Erschöpft
ließ sie den Kopf wieder in ihre Arme sinken und schluchzte leise. Was war
geschehen? Noch gestern war ihr Leben wunderbar gewesen. Ein toller Job, ein
sorgenfreies Leben in einer der schönsten Städte der Welt und ein
vorhergehender Besuch in Tschechien bei ihrer Familie. Tränen schossen Tanja in
die Augen,
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