Der Untoten Zaehmung
sagte Will. »Ihr nicht?«
Plötzlich tauchte ein Satz in Wills Kopf auf. Ich sehe tote Menschen.
Die Stimme eines Kindes. Wo war das hergekommen?
Aus der üblichen Quelle: Wills übersteigerter Fantasie. Aber was, wenn es einen Knaben gab, der tatsächlich tote Menschen sah, so wie er? Das arme Kind. Alle würden es für verrückt halten. Es würde einen Arzt brauchen; und was, wenn der Arzt selbst …
»Shakespeare!«
Will blinzelte. Er war wieder in seinem Kopf verschwunden. Er musste wirklich damit aufhören oder es zumindest auf Zeiten beschränken, in denen er nicht einem Nekro-Vampir gegenüberstand, der ihn töten konnte.
»Vielleicht würdet Ihr etwas anderes als Eure selbstsüchtigen Gelüste hören«, sagte Will, »wenn Ihr weniger der Blutgier lauschen und Euch stattdessen auf den Rhythmus der Erde und seiner Bewohner konzentrieren würdet.«
Nigromante knurrte und fletschte die Zähne. Will verdrehte die Augen. Solch ein Verhalten war bei ihm nutzlos. Er hatte schon sehr viel furchterregendere Dinge gesehen als ein Paar scharfe Zähne.
»Ich will nicht«, sagte Nigromante. »Diese Stadt ist nicht groß genug für uns beide.«
»Wenn das wahr ist, warum habt Ihr dann nicht schon vorher versucht, mich umzubringen?«
»Was denkt Ihr, worum sich meine Zombies die ganze Zeit bemüht haben?«
»Sie haben sich nicht besonders angestrengt«, sagte Will. »Ich bin immer noch am Leben.«
Mehr oder weniger.
»Ihr hattet Hilfe«, erwiderte Nigromante schmollend. Er war ein wirklich lästiger Jungvampir. »Woher sollte ich wissen, dass es in London einen Jäger gibt?«
»Warum sollte das nicht der Fall sein?«
»Es gibt nicht mehr viele von ihnen.«
Das stimmte. Will hatte auch noch nie einen so kompetenten getroffen wie Kate. Aber die meisten von ihnen hatten auch keinen Vampir, der ihnen half, wenn die Dinge außer Kontrolle gerieten.
»Ich weiß, dass Ihr versucht habt, die Königin zu töten«, sagte Will.
»Na und?«
Will kam näher heran. Der Nekro-Vampir schien es nicht zu bemerken. »Ihr werdet es wieder versuchen.«
Nigromante zuckte mit den Schultern. »Wenn sie mich dafür bezahlen.«
»Wer?«
Guy verzog höhnisch den Mund. Zumindest waren seine Reißzähne dadurch nicht länger sichtbar. »Ihr denkt, dass ich Euch verraten würde, wer mich angeheuert hat, damit Ihr mir meinen Auftrag wegnehmen könnt?«
»Ich würde niemals etwas tun, das unserer Königin schadet«, sagte Will beatimmt.
Guy runzelte die Stirn. »Warum nicht?«
»Sie ist … die Königin.« Noch ein paar Schritte, und Will würde in Schwertreichweite seines Gegners sein. Wenn er ihn jetzt nur noch irgendwie ablenken könnte.
»Nicht unsere Königin.«
»Meine Königin«, erwiderte Will. »Solange sie lebt.«
Nigromante schnaubte verächtlich. »Eure Menschlichkeit wird noch Euer Untergang sein, Shakespeare.«
»Ich bin anderer Meinung. Meine Menschlichkeit ist das, was mich all die Jahrhunderte am Leben erhalten hat.«
»Wir werden sehen«, sagte Nigromante.
Mit einer Hand packte er Will und schleuderte ihn einfach vom Dach.
35
»Welch bitt’res Ding ist es,
Glückseligkeit nur durch and’rer Augen zu erblicken!«
Wie es euch gefällt (5. Akt, 2. Szene)
I ch versuchte, Schritt zu halten, aber Will war zu schnell für mich. Niemals hatte ich ihn oder jemand anders so schnell laufen sehen.
Bevor er verschwunden war, hatte er in Richtung London Bridge gestarrt, also machte ich mich dorthin auf. Ich fand ihn bewusstlos auf der Straße vor der Southwark-Kathedrale.
Die Nacht war dunkel, und er bewegte sich nicht. Im ersten Augenblick erstarrte ich. Was sollte ich nur tun, wenn er tot war?
Dann bewegte er sich stöhnend, und ich war von der Trägheit, die mich ergriffen hatte, befreit. Ich rannte zu ihm und fiel an seiner Seite auf die Knie.
»Was ist geschehen?« Wolken bedeckten den Mond. Ich konnte kaum etwas sehen. Aber ich kannte den Geruch von Blut sehr gut.
»Ich … « Will hob eine Hand an seinen Kopf, und als er sie zurückzog, glänzte sie feucht. »… weiß nicht genau.«
Er sackte in sich zusammen, aber ich hielt ihn wie ein Kind an meine Brust gedrückt. »Hat Nigromante Euch geschlagen?«
Meine Stimme war rau. Ich hörte die Gewalt hinter den Worten. Wenn Guy de Nigromante in diesem Moment vor mir gestanden hätte, wäre er derjenige, der bluten würde.
»Nigromante«, wiederholte Will.
»Der Nekro-Vampir«, flüsterte ich. Es war zwar niemand in der Nähe, aber man konnte trotzdem
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