Der verborgene Stern
vor nichts Angst haben, ihr Leben wäre so bunt und turbulent wie ein Jahrmarkt.
Warum sollte sie nicht für einen Abend so tun, als wäre alles in Ordnung? Sie kletterte in die Gondel des Riesenrads und schmiegte sich eng an Cade. Gemeinsam fuhren sie gen Himmel. Unter ihnen tummelten sich die Menschen auf dem Rasen. Teenager stolzierten, ältere Paare schlenderten, Kinder rannten. Als sie wieder nach unten fuhren, wehte Baileys Haar nach oben, ihr Magen folgte. Sie hob den Kopf und schloss die Augen.
Natürlich küsste er sie. Das hatte sie gewollt, sie hatte sich gewünscht, dass ihre Lippen sich auf diese süße, unschuldige Weise berührten, während sie durch die Nacht kreisten und die Lichter in allen Farben des Regenbogens leuchteten. Und dann schickte das erste Feuerwerk einen Regen aus Gold in den schwarzen Himmel.
„Oh, wie schön.“ Wieder legte sie den Kopf an seine Schulter. „Als würde man Juwelen ins Meer werfen. Smaragde, Rubine, Saphire.“
Die Farbblitze schossen in die Höhe, fächerten sich in einem Rausch von Farben auf, verblassten wieder und machten der nächsten, noch bunteren Explosion Platz. Weit unten applaudierten die Leute, irgendwo schrie ein Baby.
„Das Baby hat Angst“, murmelte sie. „Es klingt wie Gewehrschüsse oder wie Donner.“
„Mein Vater hatte einen English Setter, der sich am Vierten Juli immer unter dem Bett verkrochen hat.“ Cade verschränkte seine Finger in ihren. „Er hat stundenlang nur gezittert.“
„Man muss ja auch Angst bekommen, wenn man nicht weiß, was es ist.“ Glitzernde Diamanten erstrahlten am Himmel. Plötzlich begann ihr Herz zu rasen, ihr Kopf schmerzte. Das lag sicher nur an dem Lärm. An dem Lärm und daran, wie die Gondel schaukelte.
„Bailey?“ Er zog sie fester an sich, sah ihr ins Gesicht. Sie zitterte jetzt, war kreidebleich, ihre Augen schimmerten dunkel.
„Schon gut. Mir ist nur ein bisschen übel.“ Die Funken blitzten wieder auf, zerteilten den Himmel. Die Erinnerung dröhnte in ihrem Kopf wie Donnerschläge.
„Er hat die Hand hochgerissen“, flüsterte sie. „Hat sie hochgerissen, um das Messer zu packen. Ich konnte nicht schreien. Ich kann nicht schreien. Ich kann mich nicht rühren. Da ist nur das Licht der Schreibtischlampe. Nur dieser eine Lichtstrahl. Sie sind wie Schatten, und sie schreien, aber ich kann nicht schreien. Dann der Blitz. So hell, nur einen Augenblick, der ganze Raum leuchtet auf. Und er … Oh Gott, sein Hals. Er hat seinen Hals aufgeschlitzt!“ Sie vergrub ihr Gesicht an Cades Schulter. „Ich will das nicht sehen. Ich kann es nicht sehen.“
„Dann schau nicht hin, Bailey. Halt dich einfach an mir fest. Wir steigen jetzt aus.“ Er hob sie aus der Gondel und stellte sie auf dem Rasen ab. Erschauernd begann sie leise zu schluchzen. „Es kann dir nichts mehr passieren, Liebling. Du bist bei mir.“
Er bahnte sich mit ihr einen Weg zum Parkplatz und fluchte jedes Mal leise, wenn ein weiterer Feuerwerkskörper in den Himmel schoss. Sie krümmte sich auf dem Beifahrersitz zusammen, schaukelte vor und zurück, während er hastig um das Auto herumlief und sich hinters Steuer setzte.
„Weine ruhig“, sagte er. „Schrei, wenn du möchtest. Aber lass nicht zu, dass es dich innerlich zerfrisst.“
Nachdem er ihr nicht das Gefühl gab, dass sie sich schämen musste, weinte sie ein wenig, dann lehnte sie den schmerzenden Kopf zurück und sah aus dem Fenster.
„Ich sehe die ganze Zeit Steine vor mir“, sagte sie schließlich. Ihre Stimme war heiser. „Wunderschöne Steine. Unmengen von ihnen. Lapislazuli und Opal, Malachit und Topaz. In allen Formen und Größen. Ich spüre sie fast in meinen Händen. Ein länglicher Saphirin, geformt wie ein Schwert. Er liegt auf einem Tisch, als Briefbeschwerer. Und dieser herrliche weiße Quarz, von Silberfäden durchzogen. Ich kann sie sehen. Sie sind mir so vertraut.“
„Sie machen dich glücklich, du fühlst dich wohl mit ihnen.“
„Ja, ich glaube schon. Wenn ich an sie denke, dann fühlt es sich gut an. Beruhigend. Da ist ein Elefant. Nein, nicht dieser.“ Sie drückte das Stofftier an sich. „Aus Speckstein geschnitzt und mit einem juwelenbesetzten Tuch über dem Rücken. Er hat hellblaue Augen, und er sieht majestätisch und zugleich töricht aus.“ Sie hielt einen Moment inne, versuchte, an dem Kopfschmerz vorbeizudenken. „Da sind auch andere Steine, alle möglichen Steine, aber die gehören mir nicht. Trotzdem finde ich sie so schön.
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