Der verbotene Fluss
»Erzählen Sie mir morgen, wie es war?«
Er nickte. »Mit Vergnügen. Sie können sich jetzt zurückziehen. Sobald ich etwas Ungewöhnliches bemerke, erlaube ich mir, Sie zu verständigen.«
»Tun Sie das, Mr. Ashdown. Ich werde noch eine Weile aufbleiben, aber Sie können mich auch später jederzeit wecken.«
Sie verließen gemeinsam das Schulzimmer. Im Flur wand te sie sich nach links, und er ging nach rechts. An der Tür zum Turm drehte sie sich noch einmal um, doch er war schon ver schwunden.
Charlotte war gegen ihren Willen im Sessel eingeschlafen. Sie wusste nicht, was sie geweckt hatte, fühlte sich aber sofort hellwach und schaute sich im Zimmer um. Dann erst hörte sie die Schritte.
Sie riss die Tür auf, noch bevor Mr. Ashdown geklopft hatte.
»Was ist passiert?«
»Ich habe etwas im Garten gehört. Sehen Sie nach Emily – ich schaue draußen nach.«
Bevor Charlotte etwas sagen konnte, hatte er kehrtgemacht, und sie hörte nur noch seine Schritte auf der Treppe.
Charlotte warf sich ein Tuch um die Schultern und eilte hinterher. Emily lag schlafend im Bett, doch das Fenster stand offen. Als Charlotte es schließen wollte, hörte sie ein Geräusch. Jemand lief durch den Garten, dann schlug das Tor in der Mauer zu.
Als sie sich umdrehte, stieß sie mit dem Fuß gegen etwas. Charlotte bückte sich und sah entsetzt, dass ein Stück aus Pamelas schönem Porzellankopf gebrochen war. Eine Hälfte ihres Gesichts fehlte.
Sie hob die Puppe auf und legte sie in eine Kommodenschublade, um Emily den grotesken Anblick fürs Erste zu ersparen.
Dann trat sie ans Bett und schaute auf das Mädchen, das friedlich auf der Seite lag, eine Hand unter der Wange, die langen Haare aus dem Zopf gerutscht. Was mochte in ihrem Kopf vorgehen, wenn sie aus dem Bett aufstand und am Fenster nach ihrer Mutter Ausschau hielt? Welche Bilder hatte sie in diesen Momenten vor ihrem inneren Auge? Charlotte fror, und sie holte eine Decke aus dem Schrank, wickelte sich darin ein und setzte sich in einen Sessel. Sie würde hier auf Mr. Ashdown warten.
Unruhig fragte sie sich, was ihn nach draußen in die Dunkelheit getrieben haben mochte. War tatsächlich jemand im Garten gewesen? Sie horchte, doch im Haus war es vollkommen still. Ob es ratsam wäre, Sir Andrew zu wecken? Sie entschied sich dagegen. Solange sie nicht mehr wusste als jetzt, würde sie ihn schlafen lassen. Emily ging es gut, das allein zählte.
Die Minuten vergingen, und sie verspürte eine leise Unruhe. Wo blieb Mr. Ashdown? Hatte er eine Lampe mitgenommen? Ohne eine Lichtquelle würde er sich im Wald nicht zurechtfinden, das wusste sie aus eigener Erfahrung. Sie stützte den Kopf in die Hand und versuchte, sich vom Warten abzulenken, spitzte aber die ganze Zeit über die Ohren. Es blieb totenstill.
Irgendwann hörte sie von unten ein Geräusch. Rasch verließ sie das Zimmer und blieb an der Treppe stehen. Jemand hatte die Eingangshalle betreten. Charlotte zog das Tuch enger um die Schultern und ging leise hinunter.
Im Licht der Wandlampen sah sie eine Gestalt, die sich vor dem dunklen Viereck der offenen Tür abzeichnete.
»Wer ist da?« Ihre eigene Stimme klang plötzlich fremd.
»Ich bin es.«
Als er ins Licht trat, sah sie, dass er den linken Arm umklammert hielt. Er machte einen Schritt auf sie zu, dann gaben seine Knie unter ihm nach, und Charlotte konnte ihn gerade noch auffangen.
»Soll ich Sir Andrew wecken?«, fragte Mrs. Evans, doch Charlotte schüttelte den Kopf.
»Wir kümmern uns zuerst um Mr. Ashdown.« Sie hatte ihn auf die Treppe gesetzt und an den Pfosten des Geländers gelehnt, bevor sie die Haushälterin holte. Dann hatten die beiden Frauen ihn ins Wohnzimmer gebracht, wo Mrs. Evans rasch ein Tuch über das Sofa warf, um es vor Blutflecken zu schützen.
»Was brauchen Sie?«, fragte sie, da Charlotte offenkundig die Führung übernommen hatte.
»Heißes Wasser, Tücher, etwas zum Verbinden«, sagte sie knapp. »Eine Schere.«
Als Mrs. Evans verschwunden war, beugte sie sich über das Sofa, um Mr. Ashdown den Gehrock auszuziehen. Zum Glück trug er keinen Mantel; es war schwierig genug, ihn aus diesem einen Kleidungsstück zu befreien. Sie bewegte ihn so vorsichtig wie möglich, hörte aber, wie er vor Schmerz scharf die Luft einzog.
Sie warf den Gehrock über einen Stuhl. Jetzt konnte sie sehen, dass sein Hemd an der linken Schulter blutgetränkt war. Sie streifte ihm die Weste so behutsam wie möglich von der Schulter. Mrs. Evans kam
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