Der verbotene Kuss
Prinzip war die Sache simpel: Ein verlorenes Tagebuch fällt einem unter Seelenschmerzen leidenden Kriegshelden in einem Zug von Bombay nach Jaipur in die Hände, als ihm die Landschaft draußen gerade langweilig geworden war und er ein wenig Ablenkung vom Minenfeld seiner üblen Erinnerungen brauchte.
Auf so milde Weise wurde das Fundament gelegt, auf dem später leicht erste Küsse oder gar ein ruiniertes Leben entstanden.
– VIER –
Der Soldat
D er Soldat hieß James Dorsey, und ihm war das Feuerzeug zwischen Sitz und Abteilwand gerutscht. Es handelte sich dabei um das Feuerzeug, das seinem Freund Gaffney gehört hatte. Der hatte ihn gebeten, es seiner Leiche abzunehmen, falls er zur Leiche werden würde, was schließlich eingetreten war. An der Somme waren sechshunderttausend Mann gefallen, James jedoch nicht. Was von seinem Regiment überlebt hatte, war in der zweiten Marne-Schlacht aufgerieben worden, und wieder hatte es James nicht erwischt. Nach dem Krieg trat er ins Außenministerium ein und forderte den Tod in Indien ein weiteres Mal heraus – vielleicht sogar auf interessantere Weise als durch Mörser und Giftgas. Hier gab es eine große Auswahl an Todesarten, unter anderem Tiger und Banditen mit langen Messern, aber auch die fantastischsten Fieber mit Namen, die nach exotischen Blumen klangen.
Als James das Feuerzeug aus der Ritze holte, fand er das Tagebuch, das zwischen Sitz und Wand verkeilt war und fischte es gleich mit heraus. Es war in blumengemustertes Leinen gebunden und mit einer Mädchenhandschrift beschrieben. »Die Geheimnisse einer aufblühenden Maid«, witzelte er und lächelte, sodass seine Grübchen sichtbar wurden. Er schlug es auf und hegte keinerlei Bedenken in Bezug auf die Schamhaftigkeit der Maid. Eigentlich erwartete er solche gar nicht. Er hatte seine Seereise in Gesellschaft der sogenannten »Fischereiflotte« verbracht – englischen Damen, die nach Indien aufbrachen, um sich einen Ehemann zu angeln – und ihm war, als sei er gerade so dem Schicksal entgangen, mit dem Kescher eingefangen und vor den Altar gezerrt worden zu sein. Daher bildete er sich ein, die englischen Mädchen in Indien zu kennen, und gewiss würde er in diesem Tagebuch Bestätigung dafür finden.
James steckte sich Gaffneys Feuerzeug in die Tasche und begann zu lesen.
Nach und nach verging ihm das Lächeln. Eine Weile lang hielt es sich noch in Ungläubigkeit, ehe es ihm Stückchen für Stückchen aus dem Gesicht fiel. Tatsächlich erzählte das kleine Buch die Geheimnisse einer aufblühenden Maid, aber nicht solche, wie er sie erwartet hatte, und als der Zug schließlich im Bahnhof von Jaipur einfuhr, hatte James das Tagebuch zweimal gelesen und sich – zu seiner eigenen Überraschung – beinahe in die Verfasserin verliebt.
Was natürlich überaus lächerlich war. Denn man konnte sich nicht in eine Handschrift verlieben, oder? Er suchte auf den Innenseiten des Einbands nach einem Hinweis auf die Identität des Mädchens, fand jedoch keinen Namen.
Ein Geheimnis also.
Zärtlich hielt er das Buch in der Hand, als er aus dem Zug stieg und gleichzeitig direkt in sein neues Leben trat. Später, in seiner Unterkunft, las er das Tagebuch zum dritten Mal und forschte nach Andeutungen, denen er entnehmen konnte, wer das Mädchen wohl sein mochte. Einiges ließ vermuten, dass sie in Jaipur gelebt hatte, aber ob das noch zutraf, war ungewiss. Das Tagebuch war immerhin in einem Zug verloren gegangen. Also konnte sie verzogen sein. Absurderweise erfüllte ihn dieser Gedanke mit Traurigkeit. Er schalt sich, denn sie war doch eine Fremde.
Was eigentlich nicht stimmte. Sie war hier, in diesem Buch. Nicht ihr Name, nicht ihr Gesicht, dennoch war sie hier, und mochte es absurd sein oder nicht, er könnte sie tatsächlich lieben.
Wenn sie sich in Jaipur aufhielt, so schwor er sich, würde er sie finden.
Und tatsächlich brauchte er sich nicht lange in Geduld zu üben. Schon an seinem zweiten Tag in der Stadt wurde er zu einem Gartenfest in der Residenz des politischen Vertreters eingeladen. Die oberen Ränge der indischen Verwaltung wurden die »Himmelsgeborenen« genannt, und als James die unzähligen Diener mit weißen Turbanen sah, die Tabletts mit bunten Süßigkeiten und Cocktails zwischen den fantastischen bengalischen Feigenbäumen und den üppig blühenden Rankpflanzen umhertrugen, verstand er langsam den Grund dafür. In England hätte sich ein Beamter eine solche Lebensart nicht leisten können –
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