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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laini Taylor
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verkündet, dass in dem Augenblick, in dem das Mädchen spricht, alles, was sich in ihrer Hörweite befindet, tot umfallen wird.«
    »Haha! Sie leben doch noch, wie ich sehe. War bestimmt sehr lustig, als die Kleine ihre ersten Worte gesagt hat – sicherlich sind alle zusammengezuckt?«
    »Nun ja, so wird es sich vermutlich abspielen. Verstehen Sie, bis heute hat sie noch keinen Laut von sich gegeben.«
    »Wie bitte? Noch nie ? Nicht einmal als Baby?«
    »Nicht mehr seit der Taufe. Keinen einzigen Mucks. Nichts.«
    Dem folgte ein bedrücktes Schweigen. Die Hitze fühlte sich an, als wollte sie Fleisch verzehren. Der Lüsterne leerte sein Glas und sah sich nach Nachschub um. Das Eis wurde knapp. Eis gab es nie genug. Die britischen Hände, die die Cocktails umklammerten, sahen geschwollen aus. In der Luft hing stets der unterschwellige Geruch überreifen Obstes. Wann immer diesen Briten später, noch Jahre nachdem sie auf ihre kleine Insel zurückgekehrt waren, dieser Gestank beginnender Fäulnis in die Nase stieg, würden sie an Fieber und Bettler ohne Beine denken, und an traurige Elefanten, die eine Straße entlangwankten.
    »Und sie hat wirklich noch nie einen Laut von sich gegeben?«, fragte die Pferdegesichtfrau.
    »Keinen Seufzer und kein empörtes Schnauben«, sagte die Mutter des Mädchens, die sich zu ihnen gesellte und zu ihrer Tochter hinüberschaute wie zu einem Äffchen, das Kunststücke zur Unterhaltung aufführen sollte. » Sie glaubt an den Fluch. Ich glaube, die Diener haben ihr das eingeredet. Dieses ständige Gewisper. Dieser indische Unfug!«
    »Schon ein bisschen unheimlich, nicht?«, sagte die Frau beklommen. Sie war neu in Indien, und sie fand, in diesem wilden Land mogelten sich seltsame Glaubensauswüchse in ihren persönlichen und kultivierten Unglauben , wie Spiel karten, die bei einem Kartentrick angeblich zufällig aus einem Stapel gezogen werden. In Indien konnte man ganz aus Versehen die unglaublichsten Dinge glauben. »Vielleicht ist sie stumm?«, schlug sie optimistisch vor.
    »Vielleicht«, räumte die Mutter ein, deren Augen schelmisch glitzerten, und fügte unheilkündend hinzu: »Doch wer weiß, vielleicht stimmt alles. Wenn Sie es herausfinden möchten, werde ich meine Tochter ermutigen, uns eine Arie zu singen. Ihre Schwestern haben › Una voce poco fa ‹ einstudiert, und sie dürfte den Text inzwischen ebenfalls auswendig kennen.«
    »Ach, verflucht«, sagte ihr Gemahl, der einarmige politische Vertreter von Jaipur. »Ohne Frage können selbst die Diener und die Beos den Text auswendig. Die Mädchen heulen das schreckliche Ding unaufhörlich.«
    »Heulen? Gerald, also bitte!« Sie schlug mit der Hand nach ihm, und die anderen lachten. »Die Mädchen brauchen ein bisschen Kultur!«
    »Kultur!«, grölte der Vertreter. Nun entdeckte er James und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »In meinen Augen macht das Mädchen es schon ganz richtig. Was ist verkehrt an einer schweigenden Frau?«
    James rang sich ein Lächeln ab. Er bezweifelte jedoch, damit verbergen zu können, wie sehr er diese Menschen verabscheute, aber sie schienen nichts zu bemerken. Kurz darauf ließ er sie stehen und spazierte zum Rand des Gartens. Anhand der Musik – inzwischen von Liszt – wusste er, dass sie weiter Klavier spielte, und er wollte seinen Kopf von dem Geschwätz befreien, ehe er endlich seinen Blick auf sie richtete. Er atmete den Duft einer fremden Lilie ein und betastete einige breite, wachsartige Blätter. Er schaute einem Käfer zu, wie er über die Steinplatten kroch, und dann hielt er es nicht länger aus, drehte sich um und schaute zum Klavier.
    Und da war sie.
    Allein ihre Ruhe unterschied sie schon von den Frauen in ihrer Umgebung, die zu laut lachten und die Köpfe in den Nacken warfen. Ihr Rücken war gerade, ihr Hals weiß. Das hochgekämmte Haar hatte die Farbe dunkler Schokolade. Sie war von ihm abgewandt, weshalb sich James durch die Gästeschar schob, ohne das schüchterne Gemurmel der anderen Mädchen zu beachten.
    Er ging zum anderen Ende des Flügels, und nun konnte er sie ganz deutlich sehen. Ihr Gesicht war, was er vorher bereits gewusst hatte, einfach vollkommen. Es war herzförmig und zart und vom leidenschaftlichen Klavierspiel gerötet. Die Augen hatte sie niedergeschlagen, deren Farbe blieb zunächst ein Geheimnis. James war eigenartig gerührt, als er sah, dass sie tatsächlich Sommersprossen hatte. Sie waren so fein wie eine Prise Zimt, und er erwischte sich bei dem

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