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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laini Taylor
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Wunsch, sie zählen zu wollen, mit ihr an einem sonnigen Fleck im Garten zu liegen und die Sommersprossen eine nach der anderen zu berühren, den Schwung ihrer Wange nachzufahren und seinen Finger zu ihren Lippen streichen zu lassen … Jetzt sah er, dass sie sich auf die Unterlippe biss.
    Während er diesen ersten Anblick aus der Nähe tief in sich einsog, kannte James sie doch schon besser als alle anderen Anwesenden. Wenn sie sich auf die Unterlippe biss, das wusste er aus ihrem Tagebuch, hatte sie einen ihrer schlechten Tage.
    Er hatte sie sich lebhaft vorgestellt und sich halb in die Verfasserin des geheimnisvollen Tagebuchs verliebt, doch nun, als er sie leibhaftig vor sich sah, wurde diese vage Schwärmerei hinweggefegt von der heiteren Beschwingtheit, sich ernsthaft zu verlieben. Und zwar nicht nur halb, sondern tief und innig. Sein Herzschlag pochte bis in seine Hände, so sehr ergriff ihn das Verlangen, sie zu berühren.
    Plötzlich hob sie den Kopf und sah ihn. Sie sah den unverhüllten Blick in seinen Augen, und ihre Finger stolperten auf den Tasten. Durch die falschen Töne drehten sich alle zu ihr um, und das ganze Fest wurde Zeuge, wie sie einander zum ersten Mal ansahen. James konnte sich nicht von ihr abwenden. Ihre Augen waren hellgrau, ihr Blick war einsam, gehetzt und hungrig. Langsam entließ sie die Unterlippe aus der Zange zwischen den Zähnen und starrte ihn unentwegt an.
    Während sie dieser Soldat so lebendig anblickte, fühlte sie sich, als sei sie zum ersten Mal aus einem Nebel getreten und könne plötzlich klar sehen.

– FÜNF –
Vogel im Käfig
    I n ihr Tagebuch hatte sie geschrieben:
    An den meisten Tagen glaube ich aus vollem Herzen an den Fluch. Ich glaube, ich könnte töten, und bräuchte dazu nicht mehr Mühe aufzuwenden als andere zum Singen oder zum Beten. Das sind die leichten Tage. Meine Stimme schläft, und ich verspüre nicht dieses schreckliche Drängen, sprechen zu wollen. Doch an manchen Tagen erwache ich voller Zweifel, und schlimmer noch, die ganze Zei t zittern die Worte auf meinen Lippen und ich muss sie mir verbeißen. Ich sehe in die Gesichter um mich herum, in die meiner Eltern, in das des mürrischen alten Kaplans, in die anderen, die längst gerötet sind, weil sie zu früh am Tage schon getrunken haben, und ich stelle mir vor, wie ich einfach lossinge, um den Schrecken in ihren Augen zu sehen, ehe wir endlich alle erfahren, ob es denn nun stimmt oder nicht. Ob ich sie alle mit einem einzigen Wort töten kann.
    Das sind die schlechten Tage.
    Bislang ist es mir gelungen, es zu unterlassen, und zweifellos werde ich mich weiterhin beherrschen. Aber manchmal, wenn sie mich wie ein Kind und einen Idioten behandeln, wenn sie so laut und in kurzen Sätzen mit mir reden, mit diesem blasierten Gefühl, etwas Gutes zu tun – ach, wie gut sie doch sind, mit diesem Idiotenmädchen zu sprechen! –, denke ich unwillkürlich darüber nach, welches Wort ich wählen würde, wenn ich denn tatsächlich mit einem einzigen töten könnte. Hallo? Hört? Huch? Aber am liebsten stelle ich mir kein Wort vor, sondern ein Lied, sodass sie als Letztes die Stimme hören würden, die ich jeden Tag um ihretwillen opfere.
    Nach solch gemeinen Gedanken fühle ich mich schuldig, und das Schuldgefühl treibt mir die Gemeinheiten aus.
    Ihr Name lautete Anamique, nach einer flämischen Sopranistin, die ihre Mutter einst in der Rolle der Isolde in Bayreuth gehört hatte. Anamique sang die Isolde im Kopf, seit sie zwölf war und ihre Mutter die Noten für die Gesangsstunden der älteren Geschwister bestellt hatte. Tief in ihr, wo sie sang, klang Anamiques Stimme viel schöner als die ihrer Schwestern, doch wusste sie das leider als Einzige. Und sie war auch die Einzige, die es je erfahren würde.
    Jahrelange Warnungen hatten dafür gesorgt. Ihre Aja, das Kindermädchen, glaubte an den Fluch, und der Rest der Diener ebenso, sogar der alte, ernste Rajput, der die Aufgabe gehabt hatte, sie auf ihrem Pony Makrele im Garten herumzuführen, als sie noch klein gewesen war. Selbst wenn ihre Mutter ihr befahl zu sprechen, flüsterte ihr die Aja auf Rajasthani ins andere Ohr: »Pst, mein Perlchen, bleib still. Du musst deine Stimme im Käfig lassen wie einen wunderschönen Vogel. Wenn du sie herauslässt, wirst du uns alle umbringen.«
    Anamique glaubte ihr. Alles, was in Rajasthani geflüstert wurde, musste man einfach glauben.
    Ihrer Familie schrieb sie Mitteilungen auf einen kleinen Block, den sie stets

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