Der verbotene Kuss
Geschenken überladen, und es gab eine rosa Eistorte, doch die Wiege des Säuglings stand verloren am Rande der Geschehnisse. Das Baby lag still und gefasst darin und starrte mit ernsten grauen Augen ins Laub der Niembäume hinauf.
»Was will denn die alte Hexe hier?«, murmelte der politische Vertreter seiner Frau zu, und beide zuckten zusammen. Im günstigsten Fall würde Estella ihnen das Vergnügen an ihrem seichten Geschwätz rauben, aber heute wirkte sie besonders grimmig. Das für gewöhnlich streng geknotete Silberhaar hatte sich durch die Winde des Höllenfeuers gelöst, und der Fluch, den sie überbringen sollte, machte ihr das Herz schwer.
Sie ging geradewegs zu der Wiege und betrachtete das hübsche Baby. Die Feiernden verfielen in Schweigen. Alle erinnerten sich an eine Szene aus einem Märchen, und Estella erschien ihnen wie die böse Fee, die ihnen den Spaß verderben wollte. »Sie sieht aus wie eine Wahnsinnige«, flüsterte jemand. Estella blickte nicht einmal auf. Sie streckte dem Baby die Hand entgegen, und der Säugling packte ihren Zeigefinger und lächelte sie an.
Estella seufzte tief. Sie konnte ihre Entscheidung nicht rückgängig machen. Zweiundzwanzig Kinder in Kaschmir lebten , und Vasudev würde nicht zögern und sie sich zurückholen. Ohne Zweifel dachte er sich bereits die hässlichsten Unfälle aus. Deshalb tat sie, weshalb sie gekommen war. Sie sagte: »Ich verfluche dieses Kind. Es soll die schönste Stimme haben, die jemals ein Mensch besessen hat.«
Sie sah auf und blickte unter den Festgästen in die Runde. Ihre Gesichter waren gerötet vom Lachen und vom Alkohol. Anscheinend erwarteten sie eine Fortsetzung, und so fügte Estella hinzu: »Aber hütet euch, diese Stimme je zu hören. Denn jeder, in dessen Ohren sie dringt, wird auf der Stelle tot umfallen. Von diesem Moment an wird jeder Laut, den dieses Kind von sich gibt, tödlich sein.«
Der Garten hielt den Atem an, und dann hörte man nervöses Kichern. Jemand rief: »Ein Fluch! Wie originell!«
»Wirklich ein gelungener Scherz!«
»Das ist einfach göttlich!«
Estella starrte sie an. Die Augen der Feiernden funkelten vor Vergnügen. Sie glaubten ihr nicht. Natürlich glaubten sie ihr nicht. Die Untertanen Ihrer Majestät ließen sich solche Dinge nicht aufs Geratewohl einreden. Doch ob sie es nun glaubten oder nicht, der Fluch war genauso eine Tatsache wie die Hitze, und bald würden sie es am eigenen Leib erfahren.
Fragte sich nur, wie bald?
Das Baby hielt noch immer Estellas Finger. Sie staunte, wie kräftig doch der Griff eines Säuglings sein konnte. Erneut blickte sie in die grauen Augen. Dieses Kind war so ein liebenswertes kleines Wesen. Estella hatte nie eigene Kinder gehabt, weil ihr Mann so früh verstorben war. In der düsteren Trauerzeit, in den Tagen nach seinem Tod hatte sie so sehr gehofft, sie hätten ein Kind gehabt, oder es würde sich etwas von ihm in ihr bilden. Sogar während sie dem Sarg zu seiner Grabstelle gefolgt war, hatte sie noch diesen Wunsch gehegt. Aber es hatte nicht sein sollen. Sie war allein geblieben, und nicht nur das, denn sie war außerdem leer geblieben.
Der Wind strich durch die Bäume, und das Baby lächelte erneut. Das kleine Mädchen machte den Anschein, als wolle es gurren, und plötzlich spürte Estella, dass ihr eigener Tod auf ihrer Schulter hockte wie ein Vogel. Wie leicht es war zu sterben, dachte sie, und wie passend, das erste Opfer des Fluchs zu werden … Das erste Opfer dieses Kindes, das sie auf Geheiß eines Dämons gerade in eine Mörderin verwandelt hatte. Denn so viel stand fest: So gewiss wie zweiundzwanzig Kinder in Kaschmir überlebt hatten, würden hier in Jaipur Menschen sterben .
In diesem Augenblick allerdings noch nicht. Vasudev hatte seine Flüche, aber auch Estella verfügte über ihre eigenen Mittel. Ehe der politische Vertreter herbeieilen und das Kind aus der Wiege nehmen konnte, beugte sich Estella vor und drückte der Kleinen die Spitze des Zeigefinger sanft und doch fest auf die Lippen. »Du wirst doch stillbleiben, nicht wahr, meine Kleine? Bis du alt genug bist, um den Fluch zu verstehen, soll deine Stimme wie ein Vogel im Käfig gefangen bleiben.«
Und so geschah es.
– DREI –
Schwebezustand
J ahr um Jahr wuchs das Mädchen heran. In der Zwischenzeit starb Königin Victoria, schwarze Ratten brachten die Pest an Bord von Dampfschiffen von China nach Indien und Millionen Menschen starben. Estella und Vasudev waren äußerst
Weitere Kostenlose Bücher