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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laini Taylor
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bei sich trug, obwohl ihre Mutter es häufig verschmähte, das Geschriebene zu lesen, weil sie dazu die Brille hätte aufsetzen müssen, was sie um jeden Preis vermeiden wollte.
    Was die Diener betraf, die des Schreibens nicht mächtig waren, so hatte Anamique eine ausgeklügelte Gebärdensprache entwickelt, die beinahe wie ein Tanz wirkte, den sie mit ihren grazilen Händen vorführte. Und wenn sie mit ihr redeten – Gott segne sie –, hoben sie nicht die Stimmen, als sei sie taub, und sie sprachen auch nicht langsam, als hätten sie es mit einer Schwachsinnigen zu tun.
    Aufgrund ihres Schweigens war Anamique nicht wie ihre Schwestern und die anderen britischen Kinder in England zur Schule geschickt worden, sondern hatte ihr gesamtes Leben in Indien verbracht, und die meiste Zeit davon mit ihren Dienern. In ihr steckte mehr von Indien als von dieser fernen grünen Insel, die sie kaum zu Gesicht bekommen hatte. Sie spielte die Vina, die indische Laute, ebenso gut wie das Klavier, und sie kannte alle Hindu-Götter mit Namen. In der Wüste Thar hatte sie ein Kamel geritten, sie hatte einem heiligen Asketen die Schüssel mit Reis gefüllt und war von einem Elefanten mit dem Rüssel in die Höhe gehoben worden, damit sie Feigen in den höchsten Ästen hatte pflücken können. Sie war sogar mit ihrer Aja in deren staubiges Dorf gereist, um dort Feste zu feien, und sie hatte auf den Bändern einer Charpai-Liege mit den einheimischen Kindern geschlafen, aneinandergekuschelt wie Löffelchen. Die Stimme in ihr sang nicht nur Sopranpartien, sondern auch die Veden, und trotzdem biss sie sich auf die Lippe und spielte die Begleitung zum nicht weiter bemerkenswerten Gesang ihrer Schwestern.
    Wie ihre Aja es ihr beigebracht hatte, hielt sie ihre Stimme wie einen Vogel im Käfig. Sie stellte sie sich wie einen Singvogel mit aufgeplusterter Brust vor, dessen Federn so grau wie ihre Augen waren und der einen pfauenblauen Fleck am Hals hatte. Und der Käfig war in ihrer Fantasie ein verziertes Gefängnis aus verrosteten Ornamenten mit einer kleinen verriegelten Tür, die sie niemals zu öffnen wagte. Aber manchmal drohte der Drang, es doch zu tun, sie zu überwältigen.
    Einige Tage nach dem Gartenfest spielte sie gerade Klavier für ihre Schwestern, als ein Paket für sie abgegeben wurde. Der Chaprassi, der Bote, brachte es ihr, und Anamique hörte unwillkürlich auf zu spielen, woraufhin die Stimme ihrer ältesten Schwester in der Luft hing. »Ana!«, schimpfte Rosie, doch Anamique achtete nicht darauf. Nie zuvor war ein Paket für sie abgegeben worden. Sie schob die Klavierbank zurück und nahm das in Bindfaden geschnürte Paket mit hinaus in den Garten, wo sie es öffnete und ihr eigenes Tagebuch hervorholte. Verblüfft drückte sie es sich an die Brust. Sie hatte geglaubt, es für immer verloren zu haben! Ihre Erleichterung ging jedoch in Aufregung über, als ihr der Gedanke kam, dass jemand es gefunden und gelesen hatte, denn sonst hätte man es ihr wohl kaum schicken können! Ihr Herz schlug schneller, als sie das Buch aufschlug und den Brief entdeckte, der darinsteckte. Mit zitternden Händen faltete sie ihn auseinander und las:
    Als ich ein kleiner Junge war, hatte ich die Aufgabe, die Kanten von den frisch gebackenen Brotlaiben abzuschneiden und in den Holzofen zu werfen, um den Kobold zu füttern, der, wie meine Mutter behauptete, im Feuer lebte. Es sei nötig, um ihn zu beschwichtigen, damit er nicht aus reiner Bosheit unser Haus niederbrannte. Es sei ein hungriger Kobold, erklärte sie, aber ich war ein hungriger Junge, und deshalb aß ich die Brotkanten selbst, wenn sie nicht zuschaute, und der arme Kobold ist wohl verhungert. Trotzdem hat unser Haus nie gebrannt, und ich bin vielleicht durch die Extraportion Brot ein bisschen größer geworden.
    Mehr als einmal bekam ich auch den Auftrag, die kleinen Maikätzchen im Teich zu ertränken, denn wie meine Oma sagte, würden Katzen, die in diesem Unglücksmonat geboren wurden, Babys in der Wiege ersticken und Schlangen ins Haus einladen. In meinem ganzen Leben habe ich jedoch kein einziges Kätzchen getötet, ich habe sie nur versteckt und ihnen Sahne gebracht, wann immer sich mir die Gelegenheit bot. Und niemals ist wegen meines Versäumnisses ein Säugling durch diese Mörderkatzen gestorben, und auch hat nie eine Schlange unsere Schwelle überquert, außer denen, die ich selbst in den Taschen meiner kurzen Hose mitbrachte.
    Und ich habe auf den Feldern von Frankreich

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