Der verbotene Kuss
der inmitten des Gemurmels im Garten stand, sah das Licht in Anamiques Augen und lachte abscheulich und hämisch. Das Mädchen hatte sich verliebt! Nichts zermürbte alle Vorsicht besser als die Liebe. Nichts verwandelte ein Mädchen so schnell in ein törichtes Ding wie ein Soldat, der ihm Dinge ins Ohr flüsterte! Ein Soldat zudem, der es anflehte, zu sprechen . Es war so perfekt, dass Vasudev beinahe angefangen hatte, an die Vorsehung zu glauben, aber er wusste, wie die Rädchen sich drehten und surrten, wenn das menschliche Leben aufgezogen wurde und wieder ablief. Die Götter, die es ja durchaus gab, kümmerten sich nicht um die Einzelheiten. Wenn ein englischer Soldat den blutigsten Krieg in der Menschheitsgeschichte überlebt hatte und um den halben Planeten gereist war, um sich in dieses ganz spezielle Mädchen zu verlieben und sie dazu zu verleiten, ihren Fluch zu erfüllen, nun, dann musste sich Vasudev dafür ausschließlich bei diesem verrückten Bastard Zufall bedanken, und das tat er auch.
Zudem kam es gerade im rechten Augenblick. Die alte Hexe würde nicht mehr lange unter den Lebenden weilen. Vasudev gab ihr allerhöchstens noch eine Woche. Er lachte wieder. Estella war heute zum ersten Mal in all den Jahren nicht zum Morgentee erschienen. Er hatte in der Hölle auf sie gewartet, und sein Grinsen war mit jedem Moment, der verstrich und in dem ihre hohe, dünne Silhouette nicht in dem schwarzen Tunnel aufgetaucht war, breiter geworden.
Jetzt hatte er ihren Geheimtrunk in der Tasche und ging pfeifend zu ihrem pompösen Palast, um ihn dort abzugeben. »Guten Tag wünsche ich!«, rief er, als Pranjivan ihm die Tür öffnete. Mit geheuchelter Sorge und immer noch grinsend, erkundigte sich Vasudev: »Fühlt sich Memsahib heute nicht wohl?«
Pranjivan hatte für ihn nur das übliche Starren übrig und erwiderte: »Memsahib ist beschäftigt und lässt ausrichten, dass sie morgen zur gewohnten Zeit erscheinen wird.«
Vasudev lachte laut. »Sie hat es bis heute nicht einen einzigen Tag versäumt, in die Hölle hinabzusteigen, seit Yama sie mir aufgehalst hat. Nicht wegen Krankheit, nicht aus einem anderen Grund! Beschäftigt? Bei meinen Zähnen, Pranjivan, du bist ein armseliger Lügner. Wenn sie nicht im Sterben liegt, sollte sie lieber kommen und es mir selbst sagen.«
Pranjivan blinzelte nicht einmal. »Haben Sie den Geheimtrunk für Memsahib mitgebracht?«, fragte er.
Was Vasudev am meisten an dem Diener hasste, war dessen Gleichmut. Sogar Estella konnte man ein Zucken oder einen bösen Blick abringen, Pranjivan hingegen nie. Sein Gesicht wirkte, als habe man es in einer ausdruckslosen Form gegossen. Der Dämon fand das ausgesprochen unbefriedigend. Widerwillig holte er das Fläschchen hervor und reichte es ihm. »Nicht, dass sie es brauchen wird«, sagte er. »Ich schätze mal, wenn ich Estella das nächste Mal in der Hölle sehe, wird ihre Seele allein kommen, wie eine Motte, die von den Flammen angezogen wird, so wie alle anderen dieser bemitleidenswerten Menschen.«
Pranjivan wollte Vasudev die Tür vor der Nase zuschlagen, doch der Dämon schrie: »Und ich wette, sie wird einen ganzen Haufen Briten zur Begleitung mitbringen, hörst du? Ich werde mich um diesen Fluch kümmern!«
Die Tür schloss sich. Vasudev stampfte mit dem Fuß auf und brüllte: »Das Mädchen wird sprechen! Hörst du mich? Jeden Augenblick kann ihre Stimme aus ihr hervorbrechen wie ein Tornado, und dann habe ich gewonnen! Sie ist verliebt, Pranjivan, du alter Teufel! Hörst du? Ein Mädchen stellt alle möglichen Torheiten aus Liebe an. Frag nur Estella – sie ist genau aus diesem Grund in die Hölle hinabgestiegen!«
Von drinnen kam keine Antwort. Vasudev stand vor dem Dienstboteneingang und schnaufte durch die zusammengebissenen Zähne. »Verdammter Pranjivan«, murmelte er, gab aber schließlich auf und ging davon. Er versuchte sich damit zu trösten, dass er sich die gemeinsten Todesarten für den Diener ausdachte, denn bald würde Estella tot sein und ihn nicht mehr beschützen können. Schmerzhaft muss es sein, dachte er.
Richtig qualvoll.
– ACHT –
Der gestohlene Schatten
A m folgenden Abend feierte Anamique ihren acht zehnten Geburtstag. Bevor James seine Unterkunft verließ, schob er ein samtbezogenes Schmuckschächtelchen in die Tasche seiner Smokingjacke und holte tief Luft. Einen Diamanten konnte er sich kaum leisten, genauso wenig wie eine Ehefrau, und besonders keine privilegierte, himmlische Tochter
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