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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laini Taylor
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wie Anamique. Natürlich war es Wahnsinn, doch von all dem Wahnsinn, den er schon erlebt hatte, war es der süßeste. Er klopfte auf die Tasche und machte sich auf.
    Gerade hatte er Blumen gekauft und schlenderte am Palast der Winde vorbei, als plötzlich ein Mann vor ihm stand, ein großer, ernster Inder. Einen Moment lang dachte James, es müsse sich um einen Mörder handeln, weil der Kerl einen so intensiven, fast grausamen Blick hatte, doch dann erkannte er ihn an seinem feinen englischen Anzug. Es war der Diener dieser Witwe, die überall nur »die alte Hexe« genannt wurde, derjenigen, die Anamique die Ängste und den Unfug eingeimpft und ihr junges Leben mit Schweigen verdorben hatte.
    »Was willst du von mir, Mann?«, fragte James und richtete sich zu voller Körpergröße auf, wodurch er, wie er zufrieden feststellte, den Inder um ein Stückchen überragte.
    »Lieben Sie das Mädchen?«, fragte Pranjivan.
    »Was geht dich das an?«, knurrte James.
    »Wenn Sie das Mädchen lieben, dann lieben Sie auch ihr Schweigen.«
    »Ihr Schweigen lieben? Was soll das? Ist das eine Art Spiel?«
    »Es ist ein Spiel, aber kein lustiges. Es ist das Spiel eines Dämons, und wenn Sie das Mädchen zum Sprechen ermutigen, ermutigen Sie sie gleichzeitig dazu, Sie zu töten. Und dann hat der Dämon gewonnen. Mir wäre es lieb, wenn dieser Dämon nicht siegt.«
    »Dämon?«, fragte James. »Bist du verrückt? Es gibt keine Dämonen. Es gibt keine Flüche. Es gibt nur bösartige Scherze und fiese Menschen, die ein unschuldiges Mädchen quälen!«
    Pranjivan schüttelte den Kopf. »Sind Sie sich da wirklich so sicher? Würden Sie sich einen Stein auf einem Feld ansehen und behaupten, darunter verstecke sich keine Kobra, nur weil Sie die Schlange nicht sehen können?«
    »Und was kann ich nicht sehen? Dämonen?«
    »Sie können die Dämonen sehen.«
    James schaute auf der Straße in das Gedränge von Kamelen, Rikschas und ernsten Männern mit Turban und gezwirbelten Schnurrbärten. Er zog eine Augenbraue hoch und blickte Pranjivan an. Der lächelte dünn und sagte: »Hier in der Nähe ist gerade keiner.«
    »Selbstverständlich nicht. Nun muss ich aber weiter. Ich habe heute keine Zeit für deine Mythologie.« James ging um Pranjivan herum und setzte seinen Weg auf dem Boulevard fort.
    Pranjivan schloss sich ihm an und ging neben ihm her. »Ach? Warum denn? Was ist denn heute los?«
    James warf ihm einen finsteren Blick zu, antwortete jedoch nicht. In der Tasche umschloss seine Hand das Samtschächtelchen.
    »Wie ich gehört habe«, sagte Pranjivan, »wäre sie am Boden zerstört, wenn sie für Ihren Tod verantwortlich wäre. Um Anamiques willen wünschte ich mir, es möge nicht geschehen.«
    »Äußerst freundlich von dir.«
    »Wenn Sie sie beschützen wollen –«
    »Ich will sie heiraten«, sagte James und wandte ihm das Gesicht zu.
    »Dann heiraten Sie sie«, sagte Pranjivan leise und ein dringlich. »Aber glauben Sie mir. Die Welt reicht tiefer hinab, als Sie wissen, Engländer. Unter den Steinen gibt es Kobras, und es gibt auch Flüche.«
    Die Eindringlichkeit, die in der Stimme des Inders mitschwang, verblüffte James. Der Kerl war vielleicht verrückt, aber er war sich seiner Sache sicher. Was hatte es damit auf sich? James jedenfalls begann in seiner Überzeugung zu schwanken.
    Pranjivan fuhr fort: »Sie darf auf keinen Fall sprechen. Glauben Sie es mir. Glauben Sie daran, dass es zwischen Himmel und Erde mehr Dinge gibt, als Sie mit Ihren Augen gesehen haben.« Dann nickte er scharf zum Abschied und ging über die Straße auf eine wartende Rikscha zu. James schaute ihm hinterher. Er sah, wie der Mann einstieg, wie die Träger die Stangen ergriffen, doch ehe sie losgehen konnten, tauchte aus dem Schatten des Vehikels eine spinnenartige Hand auf und gebot ihnen Halt.
    Über der Straße lagen schon die tiefen, langen Schatten der untergehenden Sonne, und James konnte die zweite Person in der Rikscha nicht erkennen, bis diese sich vorbeugte. Selbst die winzige Bewegung schien ihr große Mühe zu bereiten, und als ihr Kopf ins Licht kam, erkannte James Estella. Sie wirkte sehr krank. Ihr Gesicht war angespannt und fahl, in ihren Augen brannte eine furchterregende Intensität. James überlief ein Schauer, als sie ihn geradewegs anblickte.
    »Was will sie bloß?«, fragte er sich. Voller Unbehagen ging er auf sie zu, doch hatte er kaum ein paar Schritte zurückgelegt, als die alte Hexe die Hand aus der Rikscha streckte und James

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