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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laini Taylor
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weiß wie Papier. »Bedeck das Auge, Schatz. Sie könnten es … benutzen .«
    Esmé hielt sich die Hand über das Auge. »Es benutzen ?«
    »Hat dich jemand angesprochen, Esmé? Hat dir jemand in die Augen gestarrt, sodass du zurückgestarrt hast?«
    »Was?«, fragte Esmé. Nur selten traf sie Fremde, wenn sie nicht in Begleitung ihrer Mutter war. »Nein.«
    »Hast du irgendwelche einäugigen Vögel gesehen?«
    »Einäugige Vögel?«, wiederholte Esmé. Ein ungutes Gefühl beschlich sie bei der Erinnerung an einen Ausflug zum Meer, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Ihre Mutter hatte wild herumgefuchtelt und geschrien und eine einäugige Möwe verscheucht, dann hatte sie Esmé auf dem Rückweg nach London wie eine Puppe an sich gedrückt.
    »Irgendetwas Einäugiges. Krähen, Tauben, Katzen?«, beharrte Mab.
    Esmé schüttelte wieder den Kopf.
    »Ist irgendetwas passiert, irgendetwas Seltsames?«
    »Seltsam?«, hakte Esmé nach, und in ihrer Stimme schwang eine ungewohnte Bitterkeit mit. »Unser ganzes Leben ist seltsam.«
    Lange Zeit war es ihr überhaupt nicht aufgefallen, wie klein und unwirklich ihr Leben war, nur sie beide in einer Welt, die sie sich selbst erschaffen hatten. Inmitten des Getöses einer Großstadt und inmitten des Tumults von Motoren und Stimmen kannten sie niemanden. Sie hatten keine Freunde und keine Familie, und sie öffneten die Tür nicht, wenn die Nachbarn klopften.
    Aber obwohl sie niemanden kannten, gab es draußen in der von Menschen wimmelnden Welt jemanden, der sie kannte, denn dieser Jemand schickte ihnen Diamanten. Die Edelsteine kamen mit der Post, lose in einfachen Luftpostumschlägen ohne Absenderadresse. Mab bewahrte sie im Salzstreuer auf, und alle paar Wochen nahmen sie die Londoner U-Bahn nach Hatton Garden, klopften an die Hintertür eines Juweliergeschäfts und verkauften ein oder zwei Steine an eine fette Frau mit wulstigen Lippen. Diese Ausflüge nannten sie ihre »Diamanttage«, und anschließend gingen sie in hübsche kleine Geschäfte, wo sie Artischocken, Kirschen und rosa Schachteln mit Baklava kauften, Bücher und Notenblätter, Perlmuttknöpfe und Stickgarn und lange Stücke antiker Spitze.
    Alles war seltsam, und doch wieder nicht! War es seltsam, dass Esmé nie zur Schule, zu einem Friseur und nicht mal zu einem Arzt ging? Mab hatte ihr Lesen und Schreiben, Rechnen und Violine spielen beigebracht, und Mab schnitt ihr auch die Haare. Was den Arzt betraf, so war keine der beiden je krank geworden. Sie tranken täglich eine Portion Kräutertee, den Mab selbst mischte, und das war alles, was sie an Medizin brauchten. Vor einigen Monaten hatte Esmé ihre erste Monatsblutung bekommen, und ihre Mutter war erbleicht und hatte geweint, sodass Esmé einen Augenblick voller Panik geglaubt habe, sie müsse sterben, doch Mab hatte ihr hastig erklärt, es bedeutete nur, dass sie kein Kind mehr war. Dass sie sich fortpflanzen könnte. Es hatte sich eigenartig angehört, wie bei Tieren – fortpflanzen. Mab bekam schreckliche Albträume und hatte das ganze Haus mit ihren Schreien geweckt.
    Und genau in jener Nacht, als sie vom Geschrei ihrer Mutter wach geworden war, hatte Esmé geglaubt, auf dem Kirchturm gegenüber einen Mann stehen zu sehen, der sie durch das Fenster anstarrte. Ihr Herz hatte für einen Schlag ausgesetzt, doch beim zweiten Blick war niemand mehr dort gewesen.
    An diesem Tag und in dieser Nacht, mit der Blutung und den Schreien, war für Esmé etwas aus dem Lot geraten, wie ein Bild, das schief an der Wand hängt. Sie mochte das Leben, das sie mit ihrer Mutter führte. Es war schön. Manchmal erschien es ihr, als würden sie den geliebten Märchen in den hübschen goldgeprägten Büchern nacheifern. Sie nähten sich ihre eigenen Kleider aus Ballen von Samt und Seide, sie aßen jede Mahlzeit wie ein Picknick, ob nun draußen oder in der Wohnung, sie tanzten auf dem Dach und schlugen mit ihren Körpern Gassen durch den Nebel. Sie bestickten Wandteppiche mit eigenen Bildern, spielten endlose Melodien mit den Geigen, zeichneten jeden Monat den Lauf des Mondes auf und gingen so oft sie wollten ins Theater und ins Ballett – letzte Woche zum Beispiel waren sie jeden Abend zu der Schwanensee -Aufführung gegangen. Esmé konnte tanzen wie eine Fee, klettern wie ein Eichhörnchen und so still sitzen, dass sich die Vögel im Park auf ihr niederließen. Ihre Mutter hatte ihr all das beigebracht, und viele Jahre hatte es genügt. Aber nun war sie kein kleines

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