Der verbotene Kuss
Mädchen mehr, und sie nahm immer mehr Bruchstücke der Welt außerhalb ihres netten kleinen Lebens wahr, einer Welt voller Würze, Poesie und fremder Menschen.
Zweimal hatte der Junge aus dem Blumenladen sie angelächelt, und dabei war sein Gesicht rosarot geworden. Als er letzte Woche beim Bäcker hinter ihr in der Reihe gestanden hatte, hatte er vorsichtig ihren langen Zopf in die Hand genommen und geglaubt, sie würde es nicht bemerken. Hatte sie aber doch. Sie hatte sich nicht umgesehen, sondern stotternd den Kuchen bestellt und anschließend eilig den Laden verlassen. Seine Berührung des Zopfes und das Kribbeln im Nacken hatte sie auf dem ganzen Weg nach Hause gespürt. Sie kannte nicht einmal seinen Namen. Sie kannte niemandes Namen.
»Was stimmt denn nicht mit uns?«, wollte Esmé jetzt von ihrer Mutter wissen. »Warum sind wir solche Außenseiter? Warum haben wir keine Freunde? Warum haben wir keine Familie?«
»Ich weiß, unser Leben ist … anders. Ich …« Mab stockte. »Schatz, ich wusste einfach nicht, wie ich es anstellen sollte. Ich habe es so gut gemacht, wie ich nur konnte!«
»Was meinst du damit?«, schrie Esmé niedergeschlagen, denn zum ersten Mal brach die Verwirrung aus ihr hervor und überwältigte ihr ruhiges, stilles Wesen. »Du hast nicht gewusst, wie du was anstellen sollst? Leben ?«
»Ja! Ich hatte keine Ahnung! Ich musste alles lernen, Esmé, nachdem du geboren wurdest. Wie man eine Straße überquert und einen Wasserhahn aufdreht und ein Streichholz anzündet! Wie man Schuhe zubindet! Wie man mit Geld umgeht!« Sie holte tief Luft, zögerte und fügte dann leise hinzu: »Und ich musste lernen, wie man jemanden ansieht, ohne zu fürchten, dass er durch meine Augen in mich eindringt und meine Haut wie ein Kostüm trägt, während ich in die Schatten meiner eigenen Seele gedrängt werde!« Ihre Stimme zitterte und wurde schrill vor Hysterie.
Esmé starrte sie benommen an, und eines wurde ihr klar: Was auch immer passiert war, was auch immer passierte, das nette kleine Leben, das sie bislang geführt hatten, neigte sich dem Ende zu. Der Anfang von etwas Neuem stand bevor.
»Wovon sprichst du, Mama?«, fragte sie sanfter. Sie hockte auf den Knien, ihr Haar hing offen herab und bildete auf dem Boden einen Kranz um sie, der im Licht der Dämmerung so rot wirkte wie vergossenes Blut. In ihrem weißen Nachthemd sah sie sehr jung und zerbrechlich aus, und Mab streckte die zitternde Hand aus und ergriff die Finger ihrer Tochter.
»Esmé, du hast doch nicht …«, begann sie voller Unbehagen, doch ihr versagte die Stimme, und sie musste schlucken und erneut ansetzen. »Du hast keine Wölfe gesehen oder gehört, oder?«
Und plötzlich erinnerte sich Esmé an den Wolfsgesang, die sehnsüchtigen, poetischen Windungen in der Stille des Morgengrauens, und an das Gefühl der Euphorie, das damit einhergegangen war. Noch in der Erinnerung hob das Geheul sie empor wie das Crescendo am Ende einer Symphonie und ließ ihr Herz klopfen. Mit großen Augen nickte sie. »Heute Morgen«, sagte sie. »Ich bin von ihrem Heulen aufgewacht.«
Mabs Lider flatterten, als würde sie in Ohnmacht fallen. Sie stützte sich mit einer Hand auf den Boden und schnappte nach Luft. »Oh, nein, nein«, schluchzte sie. »Sie haben uns gefunden.« Unvermittelt erhob sie sich, ging zum Fenster, suchte die Straße ab und zog die Vorhänge zu.
»Wer hat uns gefunden, Mama?«, fragte Esmé.
Mab wandte sich zu ihr um. »Ich wollte deine Seele nicht mit ihrer Hässlichkeit verderben, mein Schatz. Aus dem Grund habe ich dir nie von ihnen erzählt, von meinem Leben vor –«
»Meinst du damit die Menschen, die dich aufgezogen haben?«
»Sie sind keine Menschen !«, fauchte Mab. »Sie können über eine Meile hinweg das Blut in deinen Adern rauschen hören. Sie riechen die Farbe deines Haars im Dunkeln. Sie sind Jäger, Esmé, und sie altern nicht, sie sterben nicht, und sie können nicht lieben . Sie sind leer, sie sind böse, und ich … ich habe dich ihnen gestohlen !« Ihre Hände bewegten sich zu ihrem flachen Bauch und legten sich darauf, als erinnerten sie sich an eine Zeit, als er rund und prall gewesen war. Sie senkte die Stimme zu einem Flüsterton. »Vor vierzehn Jahren bin ich ihnen entkommen und habe dich wie einen Schatz in mir getragen. Ich hatte immer Angst, dass sie uns eines Tages aufstöbern würden, aber ich … ich habe mich in den Glauben geflüchtet, wir wären in Sicherheit.«
»Du … du glaubst,
Weitere Kostenlose Bücher