Der verbotene Kuss
sie diese hypnotische Wirkung auf ihn. Zu seiner fortwährenden Verbitterung entdeckte er einen unangenehmen Nebeneffekt: Die Stimme verlieh der neuen Dienerin eine Macht, von der ihre Vorgängerin nicht zu träumen gewagt hätte. Sie brauchte nur zu singen, und Vasudev war verloren. Die Musik floss in ihn hinein und spülte all seine Bosheit hinweg, und wenn er aus seiner Trance erwachte, hörte er sich so groteske Sätze sagen wie: »Was immer du für das Beste hältst«, oder: »Gewiss, meine Teuerste, alle Kinder sollen die Flut überleben.«
Und so zermalmte er sich während Anamiques Amtszeit vor Niedergeschlagenheit die Zähne zu Stummeln, und trotzdem erschien er jeden Morgen pünktlich an dem kleinen Tisch und brachte eine frische Kanne Tee und ein Fläschchen Geheimtrunk mit. Zwar träumte er weiterhin davon, die Menschheit mit seinen Flüchen zu plagen, doch vergaß er sie in dem Augenblick, in dem Anamique ihre Stimme aus dem Käfig ließ. Sie selbst hatte sich ihre Stimme immer als einen Singvogel vorgestellt, aber für Vasudev war es ein Raubvogel, der ihm den Willen stahl. Am schlimmsten war jedoch der Umstand, dass er selbst diese entsetzliche Macht gegen sich beschworen hatte.
Yama schwebte häufig in der Nähe, um Anamique singen zu hören, und sie brachte stets neue Lieder mit, solange sie lebte. Jahrzehntelang konnte man in diesem Teil der Hölle ihrer Musik lauschen. Während ihrer Amtszeit überlebten viele Kinder, deren Seelen glücklich auf die Welt zurückkehren durften – im Austausch gegen gottlose Männer und freudlose, habgierige Frauen, gegen Sklavenjäger und Opiumhändler, Sepoy-Verräter und brutale Stammesangehörige, korrupte Nabobs und große weiße Jäger und gegen alle anderen Spezies von Schurken, die es auf Pranjivans Liste schafften.
Für die bösen Menschen in diesem Teil der Welt brachen harte Jahrzehnte an, in denen so mancher Schurke vorzeitig seinen Abgang machte, und das Feuer brannte hell und heiß und erneuerte sie alle. Sie wurden wiedergeboren als Karpfen und Makaken, als Salamander und Moskitos, ohne sich an ihr Leben als Mensch und an das anschließende Feuer entsinnen zu können, sondern nur mit dieser schwachen Erinnerung an Musik, an Fetzen eines Traumes aus ihren letzten glimmenden Augenblicken in der Hölle.
– Dämonenbrut –
S echs Tage vor Esmés vierzehntem Geburtstag wechselte ihr linkes Auge die Farbe: von braun zu blau. Es passierte in der Nacht. Esmé hatte sich mit braunen Augen schlafen gelegt, und als sie in der Dämmerung vom Wolfsgeheul erwachte, war ihr linkes Auge blau . Sie war aus dem Bett und zum Fenster geeilt, um Ausschau nach den Wölfen zu halten – Wölfe in London, das war ein Ding der Unmöglichkeit! Aber sie schaffte es nicht bis zum Fenster. Das Auge blitzte ihr aus dem Spiegel entgegen, bleich wie ein Geist, und sofort hatte sie die Wölfe vergessen und starrte sich selbst an.
Dabei handelte es sich keineswegs um einen ungewöhnlichen Lichteffekt. Ihr Auge hatte einfach ein gespenstisches Weißblau angenommen – die Farbe, die altes Eis an den Stellen bekommt, wo es niemals taut –, und obwohl sie zunächst völlig verblüfft reagierte, hatte es auch etwas Vertrautes an sich. Esmés Blut begann schneller durch die Adern zu rauschen, als sie von Erinnerungen überflutet wurde: an eine Welt aus Schnee und Felstürmen; an einen milchigen Spiegel in einem Edelsteinrahmen; an warme Lippen, die sich an ihre schmiegten.
Esmé schwankte. Diese Erinnerungen gehörten nicht zu ihr. Und das Auge auch nicht. Sie bedeckte es mit einer Hand und lief zu ihrer Mutter, um sie zu wecken.
– EINS –
Blaues Auge
E smé kletterte auf das hohe Bett ihrer Mutter und hockte sich neben sie auf die Knie. Mab hatte das Haar zu einem langen Zopf geflochten und um den Hals geschlungen wie eine kleine Schlange, und im Schlaf flatterten ihre Lider in tiefem Traum. Esmé griff nach ihrer Schulter, zögerte dann jedoch. Sie weckte ihre Mutter nicht besonders gern, es sei denn, Mab hatte einen ihrer Albträume – sie wurde ständig von Angstträumen geplagt und bekam selten ausreichend Schlaf. Häufig erwachte sie mitten in der Nacht oder am frühen Morgen mit einem Schrei, und Esmé tröstete sie dann, als wäre sie die Mutter und Mab das Kind.
Tatsächlich fiel es jetzt, da Esmé fast erwachsen war, schwer, die beiden auf den ersten Blick auseinanderzuhalten. Sie waren sich so ähnlich, und Mab war so jung. Beide waren klein
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