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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laini Taylor
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mit jedem Wort wieder und wieder ihrem verfluchten Gefängnis entfliehen.
    Und dann plötzlich bemerkte sie im Meer der Flammen eine Präsenz, eine erhabene Intelligenz, die den Blicken jedoch verborgen blieb. Es war Yama, der Fürst der Hölle. Er war unsichtbar und doch überall um sie herum, und er lauschte. Sie sang weiter, alle Arien, die sie kannte. Carmen, Manon, Eurydike, Musetta, Isolde. Den »Liebestod«, das Klagelied für einen toten Geliebten. Diesmal sang sie es bis zur letzten Silbe.
    Und sie sang noch, als sie James fand, der sich langsam durch die Flammen wand. Die Augen hatte er geöffnet, doch er konnte nichts mit ihnen sehen. Die Stimme versagte ihr.
    »Exquisit«, sagte Yama.
    Anamique blickte sich um, entdeckte jedoch keine große Gestalt oder Silhouette im Feuer. Vielleicht, dachte sie, war er selbst das Feuer.
    »Nimm deinen Liebsten und geh«, fuhr der Fürst der Hölle fort, »und nimm auch die anderen mit. Estellas Seele soll im Tausch für sie genügen. Aber du musst einen zusätzlichen Preis bezahlen.«
    »Ich werde jeden Preis bezahlen«, sagte Anamique. Es waren die ersten Worte, die sie je gesprochen hatte und die nicht aus einem Opernlibretto stammten, sondern aus ihrem Herzen, und sie meinte es ernst. Jeden Preis.
    »Du wirst ihren Platz als Dienerin der Hölle einnehmen.«
    Anamique fühlte, wie sie sich vor Angst verkrampfte, nickte jedoch. »Ich werde jeden Preis bezahlen«, wiederholte sie. Die Hitze nahm zu. Sie spürte das gedämpfte Lodern der Flammen auf ihrer Haut, da die Wirkung des Trunks nachließ. In diesem Augenblick wurde sie sehr rasch zurückgeschoben und taumelte Hals über Kopf davon, bis sie das Feuer hinter sich gelassen hatte. Sie fiel der Länge nach hin und spürte den heißen Onyxboden an ihrem Gesicht. Nachdem sie sich erhoben hatte, sah sie neben dem Teetisch Vasudev stehen, der gerade aus seiner Trance erwachte. James und die anderen konnte sie nirgendwo ent decken, und sie suchte auch nicht nach ihnen. Erneut begann sie zu singen, ergriff das versengte Ende von Pranjivans Drachenschnur und folgte ihr aus der Hölle. Sie hatte aus Orpheus’ Fehler gelernt und schaute sich nicht um.

– ZWÖLF –
Dienerin der Hölle
    J ames’ Gemahlin sagte ihm nie, dass sie ihn liebte, jedenfalls nicht laut, aber er lernte trotzdem, an ihre Liebe zu glauben. Es gab andere Wege, wie man jemandem seine Zuneigung zeigen kann, zum Beispiel, indem man ihn aus der Hölle zurück auf die Erde holt. Die Hochzeit fand im kleinen Kreis statt, nur die beiden, Pranjivan, der nun für alle Zeiten ohne Schatten leben musste, und Anamiques Eltern und Schwestern, die sich an jeden Augenblick ihrer eigenartigen Wiederauferstehung erinnern konnten. Alle standen mit dem Pfarrer im Garten, und Anamique bildete nur lautlos die Worte des Ehegelübdes, während James es leise sprach. Seine Stimme war heiser und zitterte vor Aufregung.
    Danach bestand die Welt aus einem breiten weißen Bett mit einem Kokon aus Moskitonetzen, die sich sanft im Wind des Punkah-Fächers bewegten, und kühle Glieder umschlangen sich auf weißen Laken. Als sich die beiden dieses Mal küssten, fand sich kein Schrecken und keine Hast darin, und auch die Zähne stießen nicht zusammen. Die süßen Küsse dauerten lange an, und die Lippen lösten sich nur, um Hals und Schultern des anderen zu erkunden, sowie die Hände, die zarten Augenlider und die sanften, gewölbten Täler des Rückens. Die schweigende Braut biss sich auf die Unterlippe, damit kein tödlicher Laut ihrem Mund entfloh, nicht vor Lust und nicht vor Schmerz, und sie erlebte beides in tiefstem Schweigen.
    Die Jahre vergingen, und dreimal kam Leben in die Wiege. Anamique biss bei den Geburten auf einen Lederriemen. Erst kamen zwei Jungen, dann ein Mädchen. Die Jungen erblickten das Licht der Welt, ohne dass ihre Mutter auch nur gestöhnt hätte, doch das Mädchen, eine verschlagene Träumerin, entlockte ihr einen einzigen Schrei, und so musste Anamique in die blutbefleckten Tücher des Kindbetts gehüllt hinab in den Onyxgang steigen und feilschen, um ihr Baby vor dem Feuer zu retten. Vasudev hockte hinter dem Tisch und ließ nicht lange mit sich handeln. Als Anamique die Seele ihrer Kleinen sicher auf den Armen hielt, sang sie ihr ein Schlaflied. Es war das einzige Schlaflied, das sie ihrer Tochter jemals singen sollte, und es erklang ausgerechnet in der Hölle.
    Im Gegensatz zu ihrer Familie hörte Vasudev Anamiques Stimme häufig, und jedes Mal hatte

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