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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laini Taylor
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Leben von einem Feuer oder einem Beutel mit Asche abhängen konnte. Er wischte sich den Staub aus den Augen, verneigte sich höflich und ging seines Wegs. Sie stand wie angewurzelt da und starrte ihm hinterher. Seine Reaktion hatte sie verwirrt, und er wusste auch den Grund dafür. Die Asche brannte zwar auf seiner Haut, aber eigentlich hätte sie ihn regelrecht verätzen sollen, wie Säure. Einst wäre das auch geschehen, so wie bei jedem anderen Druj. Einst war Mihai wie die übrigen gewesen, doch heute sah die Sache anders aus.
    Das Mädchen in dem Teeladen, den er schließlich wenig später betrat, errötete, als sie ihn erblickte, und er ahnte, dass sie nach ihm Ausschau gehalten hatte. »Guten Morgen, meine Blüte«, sagte er sanft und lächelte gerade so stark, dass seine spitzen Eckzähne sichtbar wurden. Im Licht des Ladens wirkte er wild und tödlich. Die Reißzähne, seine Statur, sein langes schwarzes Haar und seine Augen, hell wie die eines sibirischen Huskys, umrahmt von schwarzen Wimpern und Brauen, machten es zum einen schwer, Mihai zu übersehen, und zum anderen fast unmöglich, anschließend nicht über diese Erscheinung nachzudenken.
    »Guten Morgen«, säuselte das Mädchen und errötete vom hellblauen Haar bis zur Kehle und noch bis in den Schatten ihrer Bluse hinein. Mihai folgte der Röte mit dem Blick nach unten und sah die kleine tintenschwarze Spitze einer Tätowierung zwischen ihren Brüsten hervorluken. Es könnte die Zacke eines Sterns sein. »Haben Sie die Wölfe gehört?«, fragte sie.
    Er hob den Blick, zog die Augenbrauen hoch und tat überrascht. »Wölfe?«
    »Kurz vor der Dämmerung«, berichtete sie. Das Mädchen war hübsch. Es hatte große und helle Augen, genau die Sorte, die er immer zu sich gerufen hatte, und Mihai erwischte sich dabei, wie er aus alter Angewohnheit überlegte, es müsse leicht sein, in diese Augen hineinzuschlüpfen. Er verwarf den Gedanken mit einem Kopfschütteln. »Wir alle haben sie heulen gehört«, fuhr sie fort. »Das war völliger Wahnsinn.«
    »Wölfe in der Stadt?« Er blickte sie zweifelnd an. »Das ist tatsächlich Wahnsinn. Vielleicht hast du nur geträumt.«
    »Nein. Sie haben es sogar im Radio gemeldet«, beharrte das Mädchen. »Die sagen, es müsste sich um Tiere handeln, die irgendwelchen Wildschmugglern entflohen sind oder so.«
    »Na, dann muss ich mal die Ohren aufsperren«, antwortete er.
    »Heute Nacht wollen einige von uns aufs Dach steigen und nach ihnen Ausschau halten«, sagte sie und fügte schüchtern hinzu: »Sie könnten ja mitkommen.«
    Mihai lächelte sie nur an und bemerkte, wie ihr Blick an seinen Reißzähnen hängen blieb.
    Er bekam den Tee aufs Haus, und sie legte Schokolade auf die Untertasse und strich mit den Fingern über seine, als sie ihm die Tasse reichte. Ihr Gesicht strahlte hoffnungsvoll. Sie würde mit ihm binnen eines Herzschlags in die Dunkelheit gehen, mitsamt seinen scharfen Zähnen und allem anderen. In dieser Hinsicht waren Menschenmädchen dumm. Nein, nicht dumm. Ursprünglich und primitiv, ohne es zu wissen. Alles, was ihren Puls beschleunigte, war falsch, aber Mihai nutzte die Gelegenheit nicht aus, abgesehen von dem kostenlosen Tee. Er hatte vierzehn Jahre lang auf eine andere gewartet, fiebrig, mit geifernden Zähnen und voller Verlangen, und wenn er den Aufstand betrachtete, den die Wölfe heute Nacht veranstaltet hatten, brauchte er nicht mehr lang zu warten. Wenn Druj in einer Menschenstadt so offen auf die Jagd gingen, so weit entfernt von ihrem Reich in den abgelegenen Bergen, musste der lang erhoffte Duft ihnen den Verstand geraubt haben.
    Es war beinahe so weit. Esmé hatte ihre Reife fast erreicht.
    Während Mihai an seinem Tee nippte, konnte er vor Aufregung kaum stillsitzen. Er blätterte ein Gratis-Magazin durch, die Sorte mit Musikkritiken und guten Ratschlägen für das Liebesleben. Die Musik der Menschen genoss er genauso wie ihren Tee: als angenehme Nebensächlichkeit. Ihre sachlichen Diskussionen über die Liebe hingegen fesselten ihn regelrecht. Als sei das Geheimnis der Liebe so leicht zu lüften wie die Geheimnisse eines Brotes oder der Mathematik! Als zeichne die Liebe die Menschen nicht im Vergleich zu allen anderen Wesen, die je existiert hatten, mit absoluter Einzigartigkeit aus. Die Liebe war ihre große Besonderheit, und ihretwegen hatte Mihai einem rothaarigen Mädchen vor vierzehn Jahren geholfen, aus Tajbel zu fliehen, während sie ein Kind im Bauch getragen hatte.

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