Der verbotene Kuss
Deshalb hatte er allein in dieser grauen Stadt gewartet, Jahr um Jahr, voll glühender Hoffnung.
Vierzehn Jahre, und nun hatte das Warten ein Ende.
Mihai zwinkerte dem blauhaarigen Mädchen zu, sah die Wehmut in ihren Augen, drehte sich um und verließ den Teeladen. Er überquerte die Straße, legte den Kopf in den Nacken, und seine Raubtiersinne sortierten Hunderte frischer, menschlicher Fährten, ehe er Mabs und Esmés Witterung aufnahm. In seinem Kopf hatte ihr Geruch die Farbe ihres Haars, und er wurde heller, je näher er ihrer Wohnung kam. Er folgte ihm die Feuertreppe hinauf zu den verstaubten, mit Asche bestreuten Fenstern und spähte hinein. Der Duft war leicht und kupferig – er konnte sie beinahe schmecken –, aber in der Wohnung herrschte Stille. Man hörte weder Atem noch das Rauschen von fließendem Blut.
Dann sah er die Zöpfe, die von dem Kronleuchter hingen, und er wusste, dass sie geflohen waren. Einen Moment lang schäumte Zorn in ihm auf, als er an Mabs Hinterlist dachte, und Panik durchflutete ihn bei dem Gedanken, sie könnten ihm entkommen sein. Aber diese Gefühle wurden von der instinktiven Erregung verscheucht, die ihn beim Gedanken an eine Jagd erfüllte – allem zum Trotz, was er eigentlich sein wollte, und allem zum Trotz, was er unbedingt nicht zu sein versuchte.
– DREI –
Schwarze Wiesen
M anche meinten, die Druj seien Dämonen, Kinder des Chaos, die vor langer Zeit erschaffen wurden, um die Erzengel zu plagen und um Bosheit in den Herzen der Menschen zu säen. Andere nannten sie Feen , Waldgeister, die Jäger jagten, geboren aus den Gebeinen der Erde und älter als die Berge und selbst älter als Gott. Die meisten Menschen hatten noch nie von den Druj gehört, und jene, die sie kannten, waren geneigt, sie dem Reich der Sagen und Legenden zuzuordnen. Dennoch gab es in der Welt gute Menschen, die allzu genau wussten, wie real sie waren. Deren Seele von ihren durchbohrt worden war wie von einem Eiszapfen, die von ihnen gequält, die von ihnen gejagt worden waren und die sie wegen ihrer Albträume niemals vergessen würden.
In den Falten und Spalten der Gebirge gab es Stellen, vom Zagros bis zum Tienschan und weiter westlich in den Karpaten, wo Menschen niemals durch die Wälder wanderten, wo sie nicht jagten und kein Feuerholz sammelten, wo sie nicht im Stillen den Geliebten trafen und nicht verborgene Verstecke aufsuchten. Sie gingen nicht weiter als bis zu den Rändern der schwarzen Wiesen, jenen eingeäscherten Streifen, die sie abbrannten, um ihr Land vom Wald zu trennen.
Zweimal im Jahr zu den Tagundnachtgleichen kümmerten sich die Dorfältesten um diese Wiesen. Nur die Gebeugten und Weißhaarigen wagten sich so nah an die Wälder heran, und zwar aus gutem Grund: Die Alten stellten keine Verlockung für die Druj dar. Und während die Jungen in der Sicherheit der Dörfer warteten, gingen die Alten hinaus und legten Feuer auf den Grenzwiesen. Nachdem das schwarze Gras abgekühlt war, überquerten sie es und fühlten es unter den Füßen knistern und knirschen, und sie legten ihren Zehnten in den ersten Schatten des Waldes ab, damit die Druj ihn sich holen und forttragen könnten. Branntwein, Brot, Trockenobst und getrocknetes Fleisch, Zucker, Messer, Körbe mit jungen Kätzchen, die die Augen noch nicht geöffnet hatten. Den Sagen zufolge aßen die Druj nicht, daher wussten die Menschen nicht, für wen die Vorräte waren, und sie fragten auch nicht danach. Sie taten einfach nur das, was ihre Großeltern sie gelehrt hatten, stellten die Körbe ab und hielten die Blicke gesenkt, gleichgültig, wie groß die Versuchung war, einmal in den Wald zu spähen. Sie wollten nicht sehen, was ihnen entgegenblicken könnte.
Die Wälder gehörten den Druj. Alles darin gehörte ihnen, und man erwartete, dass sie dort blieben. Schließlich gab es Vereinbarungen, doch manchmal hielten sich die Druj aus lauter Langeweile nicht daran.
Langeweile war eine schreckliche Pein der Seelenlosen.
Jedes Dorf in den Ausläufern dieser mannigfaltigen Gebirge erzählte andere Geschichten über die Druj, die bei ihnen umgingen. Sie kamen als Krähen und Eulen, als Füchse und Elstern, als Hirsche, deren Geweihe vom Moos der Jahrhunderte überzogen waren, als riesige Wölfe, die still mitten durch den Ort trotteten. Welches Cithra sie auch gewählt hatten, ihre Augen waren immer gleich, und daran erkannten die Menschen sie. Wenn sie als Tiere kamen, hockten sie auf den Dächern oder am Rand des Marktes
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