Der verbotene Kuss
Leute werden denken, etwas stimmt nicht mit meinem Auge«, sagte sie. Der hübsche Kellner im Speisewagen hatte sie schon so neugierig angeschaut.
»Es ist ja auch etwas nicht in Ordnung mit deinem Auge«, erinnerte Mab sie.
»Ich meine, sie werden glauben, ich habe etwas Schlimmes. Oder ich hätte es gar verloren . Dabei ist es doch hübsch, wie bei einem dieser Hunde, weißt du, die immer die Frisbees fangen?« Mab blickte sie verwirrt an, und einen Moment später fügte Esmé hinzu: »Ist es nicht schon schlimm genug, dass ich mit dem kurzen Haar wie ein Junge aussehe? Mit der Klappe sehe ich wahrscheinlich aus wie ein Piraten junge.«
»Du siehst nicht wie ein Junge aus«, meinte Mab abwesend.
»Aber wie ein Pirat?«
Mab seufzte. »Lass die Klappe, wo sie ist, Schatz. Bitte.«
Trotz des geschorenen Haars sah Esmé nicht wie ein Junge aus, und Mab ebenfalls nicht. Als sie mit ihren Geigenkästen zum Bahnhof geeilt waren, hatten sie genauso viele Blicke auf sich gezogen wie an jedem gewöhnlichen Tag auch, als ihr Haar noch bis zu den Knien gereicht hatte und hinter ihnen aufgewallt war wie rote Seide. Ein poetischer Obsthändler hatte ihnen einmal gesagt, sie sähen aus wie Waldnymphen, und das galt auch weiterhin, nur heute eben wie Waldnymphen, die es satt hatten, mit dem Haar in den Ästen hängen zu bleiben, und die es deshalb mit einem Messer abgeschnitten hatten.
»Warum haben sie mir das angetan, Mama?«, fragte Esmé. »Haben sie das auch mit dir gemacht?«
»Nein«, sagte Mab und stieß das Wort so hart heraus wie ein Fingerschnippen. Esmé blinzelte sie überrascht an. Für gewöhnlich war ihre Mutter geduldig und sprach sanft. » Das haben sie mir nicht angetan«, sagte Mab. »Ich habe es noch nie gesehen. Als die Königin … in mich kam … schaute sie gern in ihren Spiegel durch meine Augen, als ob … als ob sie ich wäre, und deshalb weiß ich, dass meine Augen die Farbe nicht geändert haben, und auch nicht seine …« Sie sprach nicht weiter und senkte den Blick.
»Was?«, fragte Esmé. »Wer?«
Aber Mab antwortete nicht. Sie presste die Lippen kurz zusammen und fuhr dann fort: »Ihre Spione haben auch nicht solche Augen. Sie haben nur ein Auge, und die Königin bewahrt das andere in ihrem Tabernakel auf. Nur die Druj haben diese Augen.«
»Aber ich bin keiner von denen!«, fuhr Esmé auf. Plötzlich war sie wie elektrisiert von einem schockierenden Gedanken. Bis heute hatte sie nie nach ihrem Vater gefragt. Sie hatte nach überhaupt nichts gefragt. Plötzlich begriff sie, dass sie Angst gehabt hatte, das zu erfahren, was sich vielleicht unter den Wurzeln der Albträume ihrer Mutter verbarg. Sie wollte nicht Teil einer Vergangenheit sein, die jemanden auf diese Weise zum Schreien brachte. Und doch gehörte sie dazu. Irgendwie war sie daraus hervorgegangen. »Mein … mein Vater war doch auch keiner, oder?«
Mab schauderte. »Nein, Schatz, nein. Die Druj pflanzen sich nicht fort.«
»Oh«, sagte Esmé erleichtert. » Wer war dann mein Vater?«
Ihr Mutter zögerte, ehe sie langsam antwortete: »Er war ein Junge, ich war ein Mädchen, nicht älter als du heute. Die Königin hat ihn für mich ausgewählt, wegen seiner Haarfarbe.«
»Welche Farbe hatte es denn?«
»Ganz genau die gleiche wie meins und auch deins. Sie hat Monate gebraucht, um ihn zu finden und ihn auf ihrem Schlitten zurückzubringen. Ich wusste damals nichts über die Welt, darüber, was hinter dem Wald lag, aber heute weiß ich, er war ein Russe und hieß Arkadi.« Ihr Blick schien in weite Ferne zu schweifen, als sie sich erinnerte.
»War er nett?«
»Nett?« Mab lachte leise. »Zuerst nicht. Er hasste mich, so wie ich sie alle hasste. Er verstand nicht, was ich war, genauso wenig wie ich. Er war der erste Mensch, den ich je zu Gesicht bekommen hatte. Als ich ihn das erste Mal berührte und spürte, dass seine Haut so warm war wie meine, nicht kalt wie ihre – ich kann es gar nicht erklären, mein Schatz –, da begriff ich zum ersten Mal, dass ich wirklich war. Zuerst war er nicht nett zu mir, aber warum hätte er das auch sein sollen? Sie hatten ihn entführt! Aber mit der Zeit entwickelte sich Zärtlichkeit zwischen uns.«
Esmé schwieg und starrte ihre Mutter an. Es gab so vieles, das sie nicht verstand, und sie wusste gar nicht, wo sie mit ihren Fragen anfangen sollte. »Mama, was meinst du denn, was du warst ? Was warst du?«
Doch Mab schüttelte den Kopf und blickte aus dem Fenster. »Nun haben wir aber
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