Der verbotene Kuss
und beobachteten die Leute mit ihrem schrecklichen Starren, ohne je zu blinzeln, und die Dorfbewohner liefen in ihre Häuser und verriegelten die Türen und warteten, bis sie wieder verschwanden. Vielleicht erschreckten sie ein junges Mädchen oder einen Jungen, indem sie ihnen zu ihrem Haus folgten, doch für gewöhnlich passierte nicht mehr, wenn sie in ihrem Tier-Cithra waren.
Wenn sie Unheil stiften wollten, dann kamen sie als Menschen.
Die Geschichte spielte sich fast immer gleich ab, und sie könnte ungefähr so lauten:
»Das jüngste Margitay-Mädchen, das hübsche, hörte die Katze bei den Ställen jämmerlich miauen, also nahm sie die Laterne und wollte nach ihr sehen, doch die Katzenrufe entfernten sich immer mehr. Das Mädchen folgte, bis sie sich plötzlich unter der großen Pappel auf der hinteren Seite des Hauses wiederfand. Dort in der Dunkelheit, so düster wie der Schatten eines Schattens, stand ein Fremder. Er miaute genauso wie die Katze, aber er hörte auf, als sie näher kam, lächelte und entblößte seine Fangzähne. Er war schön wie das Spiegelbild des Teufels, und sie konnte den Blick nicht von ihm losreißen. Schwarze Haare hatte er und scharfe Zähne, und seine Augen glänzten wie Münzen in einem zugefrorenen Wunschbrunnen. Sie wusste, was er war, und sie wusste, sie sollte weglaufen, doch als hätte sie Wurzeln geschlagen, blieb sie stehen, während er zu ihr kam. Und sie regte sich nicht einmal, als er seine langen, kalten Finger unter ihr Kinn legte und ihr Gesicht hob, als wolle er ihr einen Kuss geben.
Aber es war kein Kuss. Er fixierte ihre braunen Augen mit seinen blauen, und sie wusste, sie hätte ihre zukneifen sollen. Man hatte es ihr seit der Kindheit eingebläut: Ein Druj kann hundert Dinge mit den Augen anstellen! Er kann deine arme Seele angeln und sie als Trophäe behalten, oder er kann dir Visionen eingeben und Träume einpflanzen, die im Dunkeln wie Giftpilze gedeihen. Er kann deine Augäpfel herausreißen und sie in seine Taschen stecken, oder er kann einen Zauberspruch flüstern, durch den dein Blick die Ernte verfaulen lässt oder Pferde zu Krüppeln macht!
Oder sie können deine Augen als Fenster benutzen und in dich hineinsteigen, ihren dunklen Animus in deine Seele drängen und sie ausfüllen, wie brutale Finger, die sich in den Handschuh eines Kindes schieben.
Genau das tat der Fremde der hübschen Margitay-Tochter an. Als er ihr in die Augen blickte, spürte sie Kälte in sich hineinströmen wie eisiges Wasser aus einer Pumpe, und dann versank alles in Schatten. Es war Morgen, bevor sie wieder zu sich kam. Die Vögel zwitscherten, und sie sank auf ihre Füße, noch immer unter dieser schwarzen Pappel kauernd. Aber vor ihr stand kein Fremder mehr, nur die Katze saß oben in den Ästen. Am liebsten hätte sie alles für einen Traum gehalten, doch in ihrem Haar hatten sich Blätter verfangen, und ein dumpfer Schmerz durchfuhr sie. Da wusste sie, der Dämon hatte sie nicht so unverdorben zurückgelassen, wie er sie vorgefunden hatte. Die Erinnerungen an die dunklen Stunden schlugen wie Wogen über ihr zusammen, sie sank auf die Knie und stöhnte.«
Es gab auch andere, grausamere Variationen dieser einfachen Sage, und nie wurden sie wie eine Lagerfeuergeschichte mit lauter Stimme vorgetragen, sondern nur im heiseren Flüsterton neben dem Kinderbett, um den Kleinen Angst vor der Nacht einzuflößen – und das aus gutem Grund.
Druj trugen Menschen wie Kleidung. Sie dürften das nicht tun, aber sie hielten sich nicht an das Gebot, und sie trugen die Menschen gnadenlos, zum Kämpfen und Brunften und Tanzen und zu vielen anderen Dingen, bei denen das Blut der Sterblichen schneller floss. Und wenn sie fertig waren, ließen sie den Menschen einfach stehen, wo sie ihn gefunden hatten, strömten wieder in ihre eigenen kalten Leiber und kehrten in ihren Wald zurück. Die Menschen überlebten. Im Laufe der Zeit gewannen die gepeinigten und geschundenen Seelen ein wenig von ihrer alten Gestalt zurück. Sie lebten, aber von nun an wurden sie von Albträumen gequält.
– VIER –
Wölfe
E smé spielte an ihrer Augenklappe herum und fragte sich, ob die Welt anders aussehen würde, wenn sie das blaue Auge und nicht ihr eigenes braunes benutzte. Als sie meinte, ihre Mutter passe nicht auf, hob sie den Samt ein wenig und spähte in den Eisenbahnwaggon. Alles wirkte unverändert.
»Esmé!«, schimpfte Mab. »Lass das.«
Esmé zog die Klappe wieder an ihren Platz. »Aber die
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