Der verbotene Kuss
niemals geküsst. Sie hatte noch nie jemanden geküsst! »Nein«, log sie und wich vor ihm zurück. »Ich kenne dich nicht!«
Er starrte ihr blaues Auge an, und Esmé war sicher, er wusste, dass sie log. Erneut wandte er sich Mab zu und fragte sie milde: »Bist du verletzt?«
Die ältere Frau schüttelte den Kopf und versuchte, sich näher an Esmé heranzuschieben. »Ich dachte, wir wären in Sicherheit.«
Mihai nahm ihre Hand und blieb zwischen Mutter und Tochter stehen. Er küsste Mab auf die Finger, und sie zuckte zusammen, als habe sie Angst, er könnte plötzlich über sie herfallen. »Du bist ja auch in Sicherheit«, teilte er ihr mit.
»Aber die Wölfe –«
»An die hast du dabei gar nicht gedacht.«
»Woher weißt du, was ich denke?«
» Ich weiß es eben, Mab. Ich war bei dem dabei, was mit dir geschehen ist, schon vergessen? Diesmal … ist es anders.«
Mab blinzelte. »Wie ist es denn?«
»Nicht so schrecklich. Bald wird alles gut sein«, erwiderte Mihai.
»Aber wie haben sie uns gefunden, und warum war die Königin nicht bei ihnen? Was ist mit Esmés Auge passiert? Und woher kannte Esmé eigentlich deinen Namen?«, fragte Mab atemlos.
»Alles wird gut. Bald.«
»Du sagst immer › bald ‹ . Ist jetzt alles gut?«
»Es tut mir leid, Mab«, meinte er und verspürte dabei ein Bedauern, das anderen Druj fremd war. »Ich bringe sie dir zurück. Das verspreche ich.«
»Bringst sie –« Mab starrte ihn verzweifelt an. »Nein!« Sie wollte zu Esmé eilen.
Doch Mihai packte ihre zarten Handgelenke und hielt sie mit einer Hand fest, als wäre sie leicht wie eine Feder. »Es geht nicht um das, was du vielleicht denkst«, beteuerte er abermals. Dann flüsterte er ein offenes Fenster in den Boden. Schweigend und überrascht fiel Esmé hindurch. Einen Moment lang betrachtete Mab die Öffnung, die gar nicht vorhanden sein konnte. Sie sah den Scheitel von Esmés geschorenem Schädel und die Türme und Brücken, die Felswände und den wabernden Nebel. Da begann sie zu schreien.
»Geh zu Yazad, Mab«, sagte Mihai und sprang hinter Esmé her. »Er wird es dir erklären.« Die Luft umschloss seine Füße, und Mab schrie weiter, gefangen in einem Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab. Sie hörte erst auf zu schreien, als sie mit ihrer Stimme nur noch krächzen konnte, und dann sank sie in sich zusammen, keuchte und starrte benommen den Teppich an. Nur ein roter Zopf lag dort. Den anderen hatte Mihai mitgenommen.
– SECHS –
Der Liebling der Königin
D ruj lebten ewig und hatten schon ewig gelebt. Es gab keine neuen Druj, keine jungen Druj, keine prallen Bäuche, keine Säuglinge. Falls ihre Art im Stadium von Neugeborenen begonnen hatte, so war die Überlieferung darüber in uralten Büchern oder in Feuer und Moder verloren vergangen. Was das Erinnerungsvermögen anging, so hatte es sich als unvollkommen für die Unsterblichkeit erwiesen. Die Erinnerungen verschwanden in einem See aus Nebel und enthüllten nichts. Die Druj hatten keine Legenden, nicht einmal eine Zeit, bevor der Wald gewachsen war. Nichts war jemals neu, am allerwenigsten sie selbst. Für ein uraltes Volk, das von der Ewigkeit eingelullt wurde, waren Kinder eine Offenbarung.
Und deshalb hielten sie sich Kinder.
Mab wurde in der Zitadelle von Tajbel geboren, und ihre Mutter war ein Mädchen, wie sie selbst es einmal werden sollte. Sie hatte sie niemals kennengelernt. Die menschlichen Lieblinge der Königin wurden freigelassen, sobald sie ihre Nachfolgerin zur Welt gebracht hatten, jedenfalls hatte man das Mab erzählt. Ob all diese Mädchen nun wirklich mit Taschen voller Edelsteine in die Freiheit entlassen wurden, konnte sie nicht einschätzen. Vielleicht gingen sie einfach hinaus auf die schwarzen Wiesen in ihr neues Leben. Oder vielleicht wurden sie an die Bestien verfüttert. Man wusste nie, was die Druj als Nächstes taten.
Im einen Augenblick singen sie für dich, und im nächsten sperren sie dich in den Käfig.
»Kleiner Spatz, mein Kätzchen, mein flaumiges Eulchen«, sang die Druj-Königin der kleinen Mab vor. Und obwohl sich Mab nicht selbst daran erinnerte, erzählten ihr die Dienerinnen später, die Königin habe sie in den ersten Jahren ihres Lebens kaum aus dem Händen gegeben, sondern überall mit sich herumgetragen wie einen Schatz, habe sie gewiegt, mit ihr getanzt und ihr selbst gedichtete Lieder ins Ohr gesungen, und zwar nie zweimal das gleiche.
Damals war sie noch nicht Mab. Sie hieß Izha und wuchs in dem
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